Das Tal

 

Nach "Verrat" erfreuten sich die Lin bei mir immer größerer Beliebtheit, weshalb in rascher Folge "Das Tal" und "Sonnengott" entstanden. In der vorliegenden Erzählung erleben wir die Interaktion zwischen Lin, Menschen und Elfen und erfahren wieder etwas mehr über die Beziehungen und welche Einflüsse die Anwesenheit auch nur eines Lin auf den Nachwuchs haben kann.

Auch "Das Tal" steht noch in keinem direkten Bezug zu einem meiner Projekte, obwohl sich bereits abzeichnete, dass sie früher oder später irgendwo fest installiert werden würden.

 

 

 

Es war ein schöner Tag. Und es war wieder einmal viel zu heiß, um auch nur einen Finger zu rühren. Jedenfalls nach Meinung des jungen Lin, der mit dem Rücken lässig an die Wand einer massiven Hütte lehnte und sein rechtes Bein angewinkelt mit dem Fuß in Kniehöhe abstützte. An das so angewinkelte Bein war ein ungewöhnlich großer Bogen gelehnt, den er mit verschlafenem Blick musterte.
Insekten schwirrten umher, versammelten sich in der Nähe eines kleinen Teiches, der noch vor gut drei Monaten nicht an dieser Stelle gewesen war, und trieben dort ihre sommerlichen Spiele. Aber nach Fertigstellung der Wasserleitung aus den Bergen gab es nach entbehrungsreichen Jahren endlich Wasser im Überfluss. Auch die Ernte schien dieses Jahr besonders gut geraten zu wollen.
Syrlin murrte etwas in der merkwürdigen Sprache der Lin und vertrieb mehrere lästig gewordene Fliegen mit nachlässigem Wedeln eines Tuches mit dem er eigentlich den Bogen hätte abreiben sollen. Karen schüttelte mit einem leichten Schmunzeln im Gesicht den Kopf, als sie den Lin aus dem nicht einmal drei Meter entfernten Fenster der Hütte betrachtete.
"Du solltest endlich einmal deine Sachen waschen, Syrlin", meinte sie freundlich. "Es ist kein Wunder, dass dir ständig ein Pulk Fliegen auf den Fersen ist."
"Kann ich nicht drüber lachen", entgegnete Syrlin gelangweilt und machte keinerlei Anstalten, sich zu bewegen. Dennoch glitt ein verstohlener Blick zu Karen hinüber und er versuchte den Geruch zu erhaschen, der vom heutigen Essen ausging. Sehr zu seinem Erstaunen roch es weder nach Braten oder einem Gemüse. Außer den süßen Düften eines wunderschönen Spätsommertages war nicht die Spur von garendem Essen auszumachen. Mit verstörtem Gesicht blickte er schließlich zu Karen hinüber, die daraufhin in schallendes Gelächter ausbrach.
"Heh!" rief der Lin frustriert und breitete die Hände nach beiden Seiten aus, wobei er den Bogen vor die Brust gelehnt hielt. "Es ist fast Mittag!"
"Oh, Syrlin!" rief Karen und konnte sich nur noch schwer beherrschen. Schließlich wischte sie sich Tränen aus den Augen und versuchte, ihr Lachen unter Kontrolle zu bringen. "Wenn du wüsstest, wie du aussiehst, wenn du so mit dem Bogen dastehst. Vielleicht sollte ich Jani fragen, ob du nicht im kommenden Jahr als Vogelscheuche auf den Acker gehen kannst. Immerhin brauchst du dich da nicht zu bewegen!"
"Es reicht jetzt" murrte der Lin und ein gefährlicher Unterton schlich sich in seine Stimme. Er funkelte die Menschenfrau aus blitzenden Augen an und Karen begriff schnell, dass es jetzt wirklich reichte. So ganz konnte Syrlin seine Herkunft eben nicht verbergen. Außerdem erhielt er ja oft genug Besuch von seiner Sippe, die sich auch hier im Tal aufhielt und in den benachbarten Tälern marodierte.

*

Immerhin hatte die Anwesenheit Syrlins den bezeichnenden Vorteil, dass Karen, ihr Mann Jani und deren Sohn Maton in Ruhe gelassen wurden. Einige der Lin behandelten sie sogar mit ausgesuchter Freundlichkeit! Freundlichkeit nach Vorstellungen der Lin zwar, aber immerhin nicht Feindselig oder herablassend. Im Gegenzug hatten die Menschen nichts dagegen, dass die Lin sich ebenfalls in dem gepachteten Tal aufhielten, was zudem auch noch den Zweck erfüllte, dass sich kaum jemand berufen fühlte, sich mit den Bewohnern des Tales auseinandersetzen zu wollen. Der Anblick eines Lin ließ viele Menschen - und noch mehr Elfen - schaudern. Der Anblick einer ganzen Horde von diesen merkwürdigen Gestalten in ihren abenteuerlichen Kleidern, die sich mit Jani und Karen dem Markt einer der umliegenden Ortschaften näherten sorgte dann auch meist für faire Preise. Faire Preise nach Vorstellungen von Jani und Karen jedenfalls!
Vor gut drei Jahren hatte der damals dreizehnjährige Maton den an einer Felswand abgestürzten Syrlin im benachbarten Tal gefunden. Er versorgte den bewusstlosen Lin so gut er konnte, sah sich allerdings kaum in der Lage, den gut einen Kopf größeren Körper tragen zu können. Zu allem Überfluss waren dann auch noch drei Elfen aufgetaucht, welche die Herausgabe des Lin forderten. Aber zum Erstaunen der Elfen war der Menschenjunge nicht aus der Schusslinie gewichen und hatte ihnen sogar einige üble Schimpfworte an den Kopf geworfen. Schimpfkanonade und das Geschrei eines der Elfen weckte nicht nur den bewusstlosen Syrlin auf, sondern brachte auch weitere Lin auf den Plan. So hätten die Elfen fast zum letzten Male die Sonne gesehen, wenn Maton die Lin nicht irgendwie überzeugt Oder sagen wir besser: Überredet! hätte. Murrend waren die Elfen der Gewalt und ihrer eigenen Vernunft folgend gewichen und die Lin transportierten Syrlin zum Haus der Familie des Jungen.
Nicht, dass Karen oder Jani besonders begeistert gewesen waren, als ihr Nachwuchs mit einer ganzen Horde Lin auftauchte. Aber den Verletzten pflegten sie gesund. Die anderen Lin waren so schnell verschwunden, wie sie gekommen waren. Als es Syrlin wieder besser ging, machte er keine Anstalten, auch zu verschwinden. Zunächst half er schweigend hier und dort, streifte mit Maton in der Umgebung umher, war dann und wann kurz nicht aufzufinden und erklärte schließlich, dass er zu bleiben gedachte. Jedenfalls sofern er nicht hinausgeworfen wurde. Zwar überarbeitete sich der Lin kaum, aber Jani und Karen sahen die bezeichnenden Vorteile seiner Anwesenheit, denn so hatte Maton endlich auch einmal jemanden, mit dem er umherziehen konnte.
Und gerade Karen war es dann, die mit Syrlin besonders gut klarzukommen schien. Syrlin wurde ein Mitglied der Familie!

*

"Geh jetzt bitte und hole Jani und Maton", sagte Karen freundlich. "Wenn ihr zurück seid, ist das Essen fertig."
"Aber ich brauche doch nicht den halben Tag!" rief Syrlin entsetzt, da er noch immer nicht wusste, was es geben würde. "Wie willst du in der kurzen Zeit ..."
"Syrlin!" rief Karen. "Du holst die Männer. Ich koche!"
Zur Unterstreichung dieser offensichtlich entgültigen Feststellung stemmte sie beide Arme gegen ihre schlanken Hüften und versuchte dabei ein ernsthaftes Gesicht zu machen.
"Puh", meinte Syrlin, lehnte den Bogen an die Wand und machte sich gemächlich auf den Weg. Dann setzte er noch etwas in seiner eigenen Sprache hinzu, sah sich verstohlen um, aber Karen war bereits im Haus verschwunden. Er konnte immerhin nicht sicher sein, ob Karen es nicht verstehen würde, denn zu seinem Entsetzen hatte sie ihm vor gut zehn Tagen schon einmal bei einer flapsigen Bemerkung einen leeren Topf nachgeworfen.

*

Das schneeweiße Pferd schnaubte leise und scharrte mit den Hufen, während sein Reiter seinen Blick über die umgebenden Berge schweifen ließ. Unter ihm lag ein wunderschönes, lang gestrecktes Tal. Am Fuße der umgebenden Berge säumte dichter Mischwald mattgrüne Wiesen, hier und dort waren kleine Äcker zu erkennen, auf denen das Korn und andere Saat in krassem Gegensatz zu Bäumen und Wiesen besonders gut gediehen. Inmitten des Tales stand eine große Hütte und eine Person entfernte sich offensichtlich gerade zu Fuß. Mit seiner Elfensicht konnte Arvenar all dies ausmachen, schüttelte leicht den Kopf.
Weiter glitt sein Blick zu den im Westen liegenden Ghy'enefar. Oder Zweispitz, wie die Menschen den Berg zu nennen pflegten. Dies war die natürliche Grenze zu den Ländern der Zwerge, deren Städte dennoch viel weiter westlich lagen. Im Norden und Nordosten strebten die Berge zu einer zackigen und unüberwindlichen Barriere auf, welche die Grenze zu den Ländern der Menschen bildeten. Nur im Süden und Südosten gab es mehrere verstohlene Wege, die aus den Ländern der Elfen in diesen letzten Flecken Erde des Reiches führten, der wegen seiner Unwirtlichkeit nur gelegentlich von den Jägern des Hochkönigs und einigen Waldelfen aufgesucht werden mochte.
Arvenar brachte aus einer Satteltasche eine Karte zum Vorschein und studierte sie eingehend, dann betrachtete er wieder die Umgebung und sein Blick glitt hinab in das Tal. Es war erstaunlich, was die Menschen dort vollbracht hatten. Der Elf seufzte, steckte die Karte wieder in eine Satteltasche, von der an jeder Seite ein mit dem Wappensiegel des Hochkönigs fein besticktes bronzefarbenes Tuch herabhing, das ihn als königlichen Bediensteten auswies.
Erneut schüttelte er den Kopf, stieg auf und setzte das Pferd in einen lockeren Trab, während er die Umgebung in sich aufnahm. Sein Weg und damit auch sein Auftrag führte ihn genau in dieses Tal. Und genau dies gefiel ihm ganz und gar nicht!

*

Jani arbeitete mit Maton auf einem Feld an einem ausgeklügelten Bewässerungssystem. Seitdem die Wasserleitung aus den Bergen endlich genug Wasser transportierte, gediehen die Feldfrüchte um einiges besser und Jani hatte bereits darüber nachgedacht, auch die Weiden zu bewässern, damit die wenigen Tiere etwas saftigeres Gras aufnehmen konnten.
"Da kommt Syrlin", meinte Maton und stützte sich schweißnass auf seinen Spaten.
"Sicher soll er uns zum Essen holen", erwiderte Jani, der mit einer Art kleinem Pflug einen Graben für das Wasser zog, ihn aber ebenfalls gleich darauf fortlegte.
"Hallo!" rief der Lin freundlich und betrachtete, was die Zwei heute bereits alles erledigt hatten.
Syrlin fand es immer wieder erstaunlich, wie diese Menschen schufteten. Er kratzte sich nachdenklich am Hinterkopf und betrachte aufmerksam den Graben, verfolgte die Führung, kniff die Augen zusammen und schien völlig in Gedanken versunken zu sein, bevor er den Kopf schüttelte und ein verschmitztes Lächeln durchblicken ließ.
"Ich denke", meinte Maton und konnte sich ein Lachen gerade noch verkneifen, "Syrlin hat gerade überlegt, ob es sich lohnt, eines solche Konstruktion zu bauen, um ein Dorf zu überschwemmen. Wenn dann alle Bewohner geflohen sind, kann man in aller Ruhe die Wertsachen einsammeln. Dabei braucht sich dann niemand besonders anzustrengen ..."
Ein Blick in das völlig konsternierte Gesicht des Lin reichte aus, um Vater und Sohn in schallendes Gelächter ausbrechen zu lassen. Es hätte nicht viel gefehlt und Syrlins Kinnlade wäre nach unten geklappt.
"Mein Sohn", meinte Jani schließlich, nachdem er sich etwas beruhigt hatte, "ich mache mir große Sorgen um dich. Mit deinen Ideen scheinst du sogar den Lin schon Konkurrenz zu machen.
"Allen Ernstes", fügte er ernsthafter hinzu, "ich denke, du solltest dich nicht zu oft mit der ganzen Bande herumtreiben."
"Vater!" Maton sah Jani böse an.

*

Kritik konnte der Junge ebenso wenig vertragen, wie gegenteilige Auffassungen. Jani hatte schon oft darüber nachgedacht, ob dies auf sein Alter - er war vor gut einem halben Jahr sechzehn geworden- zurückzuführen war oder ob es am Umgang mit den Lin lag? Jani war sich nicht sicher, denn Syrlin zählte nicht. Er war ein ganz anderer Schlag, als der Rest der umherstreifenden Horde.
Oh, sie waren freundlich und halfen sogar gelegentlich hier und dort aus, wenn es Jani nicht gut ging. Aber ihre rohe Art war doch alles andere als beliebt. Obendrein waren sie - warum auch immer - die Todfeinde der Elfen, von denen Jani das Land gepachtet hatte. Wie würden die Elfen darauf reagieren, wenn er nicht nur einen Lin beherbergte, sonder gleich ein ganze Horde in dem Tal duldete, die in der Umgebung sicher einiges anstellen dürfte, was außerhalb jeder Legalität war?
Maton hatte eine starke Persönlichkeit und setzte sich sogar gegenüber den Lin gelegentlich durch. Einmal musste ihn Syrlin aus etwas heraushalten, was sicherlich in einen Kampf ausgeartet wäre. Aber die Lin hatten Maton auch vieles gelehrt, was er gut gebrauchen konnte: Jagen, Verbergen, verschiedene Kampftechniken mit einigen üblen Tricks über die sich Karen missbilligend geäußert hatte, Bogenschießen und das Auffinden von diversen Kräutern, Wurzeln und Früchten. Aber unter den Dingen, die man von Lin lernen konnte gab es auch weniger erfreuliche: Auflauern, Mord, ziemlich rüde Umgangsformen und ein sehr tiefer Hass auf alle Elfen. Letzteres Empfinden teilte Maton allerdings nicht und er rügte einmal sogar Tomlin, den Anführer der Lin-Gruppe, wegen seiner Pläne, Jagd auf Elfen zu machen. Syrlin - und einige andere - hatten damals entsetzt die Luft angehalten und für einen Augenblick war es nicht sicher, ob Tomlin sich dies von einem sechzehnjährigen Menschen gefallen lassen würde. Dann hatte er den Vorfall aber ignoriert und sich Maton später gegriffen, als die zwei alleine waren. Tomlin hatte in aller Deutlichkeit darauf hingewiesen, dass dies zum ersten und letzen Mal passiert war. Maton hatte nicht darauf geantwortet, nur kurz genickt.
Maton hatte auch die Sprache der Lin fast perfekt gelernt und unterhielt sich oft mit Syrlin. Trotzdem hatte es niemals Probleme gegeben. Er war der Sohn von Menschen!

*

‚Und bisher hat er es nicht vergessen', dachte Jani still bei sich, während er sich mit seinem Sohn und dem jugendlichen Lin auf den Weg zur Hütte machte.
Schon auf einige Entfernung zur Hütte hielt Syrlin seine Nase in den Wind und machte ein erstauntes Gesicht. Ein neuer Geruch lag in der Luft. Karen hatte ihre Kostgänger schon oft genug mit völlig neuen Ideen überrascht und auch Maton und sein Vater warfen sich neugierige Blicke zu.
Das Rätsel wurde gelüftet, als die drei hungrigen Seelen die Hütte stürmten und sich am Tisch niederließen. Es gab fein geriebene Kartoffeln mit Kräutern darunter, die in heißem Öl gebraten wurden. Dazu gab es ein süßes Mus aus verschiedenen Waldfrüchten, welche die Lin gelegentlich von ihren Streifzügen mitbrachten.
Nach dem köstlichen Mal unterhielten sich alle angeregt, als es ziemlich unerwartet an die Tür pochte. Maton stand auf und ging zur Tür, während sich Karen daran machte, den Tisch abzuräumen und Syrlin sich angesichts drohender Arbeit in die hinteren Räume davongemacht hatte.
Maton öffnete die Tür und vor ihm stand ein stattlicher Elf, der ihn freundlich anlächelte und in einer flüssigen und wohlklingenden Sprache etwas sagte. Der Junge kniff die Augen zusammen und musterte den Neuankömmling genau, wobei seine Hand zum Gürtel glitt. Diese Geste schien den Elfen sichtlich zu irritieren und so trat er einen halben Schritt zurück. Die Freundlichkeit war aus seinem Gesicht gewichen.
"Wer ist es denn?" verlangte Karen aus dem Inneren der Hütte zu wissen.
"Ein stinkender Elf!" zischte Syrlin böse, bevor jemand anderer etwas sagen oder reagieren konnte. Der Elf spürte eine Klinge im Rücken und rührte sich aus offensichtlichem Grund nicht mehr.
"Syrlin!" rief Jani entrüstet und sprang schnell auf. Er eilte zur Tür und sah seine Sohn einem hochgewachsenen Elfen gegenüber, der eindeutig die Farben eines höfischen Beamten trug.
"Ah je", ergänzte er und verdrehte die Augen. "Maton, mach das du reinkommst."
"Euer Sohn?" fragte der Elf und sah zu Maton hinunter. Jani nickte, während sich sein Sohn - nicht ohne sich noch einmal kurz umzudrehen - entfernte.
"Und der andere?" verlangte der Elf nun zu wissen. Jani blickte ihn verdutzt an.
"Der hinter mir." Der Elf machte ein kaum merkliche Bewegung mit dem Kopf. "Derjenige mit dem Messer."
"Was?" Janis Gesichtsfarbe wechselte augenblicklich. "Verdammt! Syrlin las den Quatsch."
Murrend trat der Lin hervor, nahm aber die Klinge nicht herunter, sondern maß den Elfen mit einem herausfordernden Blick.
"Mach, dass du reinkommst, Syrlin." Jani ergriff den Lin am Arm und zog ihn ein Stück zurück. Trotz der unterdrückten Wut in Janis Stimme wich der Lin nicht von seiner Seite.
"Mein Name ist Arvenar", stellte sich Elf vor und warf einen ziemlich verstörten Blick auf den Lin, "und ich komme ..."
"Der Name reicht uns schon", murrte Syrlin. "Jetzt wissen wir wenigstens, was wir auf den Stein an deinem Grab schreiben sollen."
"Syrlin!" Jani verlor die Geduld, drehte sich um und stieß den Lin in die Hütte, wo er - rückwärts taumelnd - von Maton aufgefangen wurde.
"Was ist hier eigentlich los?" Karen hatte sich von ihrer Arbeit in der Küche getrennt und war in den Korridor hinausgetreten. Dort sah sieh zunächst einmal Maton, der Syrlin in den Armen hielt und der sein Messer in der Hand hielt. Dann sah sie ihren Mann im Gespräch mit einem Elfen. Aufseufzend schüttelte sie den Kopf und gab den Beiden zu verstehen, dass sie sich möglichst nach hinten aus dem Haus entfernen sollten.
"Ich bitte um Entschuldigung", meinte Jani, als er sich endlich wieder gefasst hatte, "aber Syrlin arbeitet hier. Es waren seit Jahren keine Gesandten des Hochkönigs mehr hier. Und ihr wisst selbst, dass Lin ... Nun ja, sie mögen eben keine Elfen."
"Damit", erwiderte Arvenar einigermaßen gelassen, "schmeichelt ihr der Meinung der Lin über Elfen ungemein.
Ich bin Arvenar vom Hofe Hochkönigs Shèrènessars. Ich bin der oberste Landverwalter und ich komme in einer wichtigen Angelegenheit."
"Willst du unseren Gast nicht bitten hereinzukommen?" Karen stieß ihren Mann sanft in den Rücken.
"Oh, ja, natürlich!" rief Jani und schien wie aus einem Tagtraum aufzuwachen. "Wie kann ich nur so unhöflich sein?"
Er stellte seine Frau kurz vor und daraufhin begaben sie sich in den Wohnraum, wo sie auf Stühlen Platz nahmen, die um einen wunderschönen Eichentisch gruppiert waren.

*

"Ihr begrabt die Elfen, nachdem ihr sie ... ?" Maton sah Syrlin verwundert an.
"Sicher", antwortete der Lin ernsthaft. "Die stinken schon lebendig völlig ausreichend, um alle Lebewesen in ihrer Umgebung erblinden zu lassen. Lass einen toten Elfen herumliegen und nicht einmal die Aasfresser würden sich auch nur in die Nähe wagen, wenn es der letzte Kadaver im Umkreis von mehreren Tagesreisen wäre! Es ist ein wahres Wunder, dass die Erde den Kadaver nicht wieder ausspeit!" fügte er nach einem kurzen Augenblick hinzu und verfiel in schallendes Gelächter. Maton stimmte mit ein.

*

"Es fällt mir nicht leicht", sagte Arvenar nach einem Moment des Schweigens, "nachdem ich das Tal nun gesehen habe. Ihr habt Wasser von den Bergen herabgeholt, den Boden fruchtbar gemacht und ein massives Haus gebaut." Wieder verfiel er in Schweigen und blickte seufzend zu dem gemauerten Kamin, über dem ein von Karen gemaltes Bild hing.
"Ihr seid gekommen, um den Pachtzins der vergangenen Jahre einzufordern?" Jani war guter Dinge. "Dann macht euch keine Gedanken, denn wir haben von jedem Jahr den Betrag zurückgelegt. Um ehrlich zu sein, war uns nur der Weg nach Firnhold zu weit ...
Und um noch ehrlicher zu sein", flüsterte Jani und sah betreten zu Karen hinüber, "habe ich darauf gehofft, dass ihr uns vollends vergessen habt."
Arvenar schmunzelte bei der letzten Bemerkung, wurde aber sofort wieder ernst.
"Wenn es nur das wäre", seufzte er und setzte sich gerade auf, "wäre die Angelegenheit sicherlich einfacher für mich."
"Es geht um Syrlin?" Karen warf dem Elfen einen bösen Blick zu. "Hört zu, Arvenar: Maton, unser Sohn, hat ihm das Leben gerettet und deshalb hilft er uns hier. Es ist so schon schwierig genug, aber andere Arbeiter können wir uns nun einmal nicht leisten. In ein paar Jahren vielleicht. Aber selbst dann werde ich es nicht zulassen, dass Syrlin ..."
"Halt!" Arvenar gebot Karen zu Schweigen. "Ich kann nicht sagen, dass mir die Anwesenheit eines Lin hier gefällt. Aber das ist wirklich eure eigene Angelegenheit. Ihr solltet allerdings ein Auge auf euren Sohn haben, der scheinbar oft mit dem Lin zusammen ist. Er hat ..."
"Ihr seid doch wohl nicht den weiten Weg von Firnhold hierher geritten", unterbrach nun Jani den Elfen, "um unsere Erziehungsmethoden zu kritisieren?"
"Natürlich nicht", erwiderte Arvenar verlegen. "Ich habe mehr oder weniger zufällig den Pachtvertrag gefunden, den ihr mit dem Verweser der Nordmark geschlossen habt. Ich hatte keine Ahnung, dass überhaupt irgendwer in dieser Einöde lebt; eigentlich hatte ich eher an einen Schlupfwinkel für marodierende Banden gedacht.
Wie dem auch immer sei, der Hochkönig hat in einem Abkommen mit dem Zwergenreich von Graal und dem Fürsten der südlichen Länder der Menschen beschlossen, in diesem Tal die Station einer gemeinsamen Streitmacht aller Reiche zu postieren, um den Wegelagerern das Handwerk zu legen. Außerdem soll ein Gefängnis und eine Hinrichtungsstätte hier errichtet werden."
Der Elf blickte in erstaunte und ungläubige Gesichter.
"Ich konnte doch nicht ahnen", fuhr Arvenar leise fort und senkte den Blick, "was ihr in den wenigen Jahren aus diesem Tal gemacht habt ..."
Die Unterhaltung glitt in eine andere Richtung ab und schließlich war es Arvenar, der Karen unterbrach.
"Ich bedauere, aber ich muss nun wieder fort, da ich noch weitere Dinge erledigen muss."
Jani blickte den Elfen forschend an. "Ich denke es geht um die Lin Banden, die sich hier in der Gegend herumtreiben und die jeweiligen Soldaten an der Nase herumführen, wenn sie die Grenzen überschreiten und sich im unwegsamen Gebirge verstecken.
Was wäre, wenn wir eure Soldaten zu einer dieser Banden führen? Damit wäre das Problem doch sicherlich erledigt."
"Jani!" flüsterte Karen entsetzt und sah ihren Mann mit großen Augen an. Jani aber wischte ihren Einwurf mit einer Handbewegung beiseite und so schwieg sie.
"Hm", meinte Arvenar nachdenklich. "In der Tat geht es um einige kleinere gemischte Banden und eine Horde Lin. Wenn die allerdings dahinter kommen, dass sie verraten wurden, ist euer Leben und dieses Tal nicht mehr auch nur einen Stein wert!"
"Ihr müsst eben alle erwischen", meinte Jani betreten und blickte zu Boden.
Für den Augenblick kehrte eisiges Schweigen ein und selbst die Insekten schienen gespannt auf die nächsten Reaktionen zu warten. Und unterhalb des Fensters wartete lauschend noch jemand ...

*

Nachdem Arvenar auf den Vorschlag Janis eingegangen war, öffnete sich langsam die Tür. Verstohlene Schritte näherten sich dem Wohnraum, die Sehne des großen Bogens spannte sich und geschmeidig glitt eine Gestalt in den Wohnraum. Dann verließ das Geschoss die Sehne und schnellte in den Rücken Janis, der zusammenfuhr und mit verdrehten Augen nach vorne auf den Tisch fiel.
Bevor Arvenar die Chance erhielt, zu reagieren zischte bereits der nächste Pfeil heran und durchschlug mit lautem Krachen die Stirn. Der Elf fiel tödlich getroffen rücklings auf den Stuhl zurück, kippte nach hinten um und landete ausgestreckt auf dem Boden.
Und wieder lag ein Pfeil abschussbereit auf der Sehne. Karen sah sich einer tödlichen Gefahr hilflos ausgeliefert und schüttelte mit Tränen in den Augen den Kopf.
"Von dir", murmelte die Gestalt gerade noch so laut, dass sie es hören konnte, "hätte ich einen solchen Verrat am wenigsten erwartet."
Der Pfeil verließ den Bogen, um sein Ziel mit tödlicher Präzision zu treffen. Der Schütze senkte die Waffe und drehte sich herum. Daraufhin verließ er - in einer seltsamen Sprache murmelnd - das Haus so leise, wie er gekommen war. Draußen lehnte er den Bogen wieder an die Wand und setzte sich auf einen umherliegenden Baumstamm, der als Hauklotz gedient hatte. Ein wildes Glitzern leuchtete in den Augen und er vernahm ein Geräusch im Haus.
"Alle Achtung", sagte Syrlin betonungslos, als er zu dem jungen Menschen hinaustrat und an das dachte, was er gerade im Wohnraum gesehen hatte. "Hätte ich dir nicht zugetraut. Und ..."
"Halt die Klappe, Syrlin!" fauchte Maton den Lin böse an und kniff dabei die Augen zusammen. "Dieses eine Mal halte deine Klappe."


© Juli 1993 - Thomas Klaus