Es
war nicht nur einfach irgendein Gerichtssaal. Dies war der
Gerichtssaal schlechthin und wer ihn als Angeklagter betrat oder
als solcher hinein geschleppt wurde, dem stockte der Atem. Wer als
Zeuge oder Besucher kam, versank fast in Ehrfurcht vor dem meisterlichen
Bauwerk und wer als Richter kam, genoss es, welchen Eindruck das
Gebäude immer wieder aufs Neue machte. Und die Lewenekhee waren
stolz auf dieses Gebäude, welches ihre Vorfahren bereits vor
hunderten von Jahren errichtet hatten. Eine nachgerade monströse
Freitreppe führte direkt von der steil abfallenden Klippe hinauf
zum Portal. Am Fuße der Treppe war eine Landefläche für
das Libellenvolk sowie die Station einer Seilbahn, welche die Felsnadel
mit einer anderen der steilen Felseninseln verband und es den nicht
geflügelten Bewohnern des Reiches der Lewenekhee zu ermöglichen,
nach dort zu gelangen. Außerdem befand sich auch noch eine
Anlegeplattform für die Luftschiffe am linken Ausleger, damit
auch wirklich jeder an den Prozessen teilnehmen konnte. Alle Prozesse
des Libellenvolkes waren seit geraumer Zeit öffentlich und
die Lewenekhee genossen es, wenn wieder einmal richtig aus dem Vollen
geschöpft wurde.
Vor noch nicht
einmal zweihundert Jahren waren die Lewenekhee gefürchtete
Luftpiraten und raubten selbst aus den weit entfernten Ländern
Sklaven und was sie sonst noch benötigten. Allerdings waren
sie bereits seit Jahrhunderten zivilisiert und pflegten Kunst, Kultur,
verfügten über eine sehr akribische Geschichtsschreibung
und beschäftigten sich mit allen Wissenschaften. Da sie auf
ihren Felseninseln mehr oder weniger unangreifbar waren, fühlten
sie sich als die Herren der Welt. Und streng genommen sind sie es
auch noch heute ... Aber irgendwann kehrte eine gewisse Friedfertigkeit
ein und sie stellten die Raubzüge ein, entließen alle
Sklaven in die Freiheit und widmeten sich mehr sich selbst und den
traditionellen wie arkanen Wissenschaften. Das Rechtssystem der
Lewenekhee ist legendär. Festgehalten wurde lediglich, was
verboten ist, die Strafen legen bis auf wenige im Gesetzestext
genannte Ausnahmen die Richter selbst fest. Es gibt keine
Unterschiede zwischen Zivil- und Strafsachen und seit der Gleichstellung
der Sklaven gelten die Gesetze der Lewenekhee auch für alle
Humanoiden, die sich auf den Felsnadeln niedergelassen haben.
Ohne sich groß
zu wundern, blieben so gut wie alle ehemaligen Sklaven bei den Libellen,
denn in der hiesigen Sklaverei ging es ihnen zumeist wesentlich
besser, als in ihren alten Heimatländern und sie waren zudem
auch freier als auf dem Festland. Jedenfalls, wenn wir mal davon
absehen, dass man die Inseln ohne Flügel oder ein Luftschiff
nicht verlassen kann. Die Sklaven der Lewenekhee sind hochgebildet,
denn alle Bildungseinrichtungen standen ihnen in ihrer freien Zeit
zur Verfügung, außerdem standen sie als Staatssklaven
unter dem besonderen Schutz der regierenden Kaste. Ihre Aufgaben
bestanden zumeist darin, sich der Landwirtschaft auf den Terrassengrundstücken
sowie dem Fischfang innerhalb der Felsenriffe zu widmen. Eine sehr
zivilisierte Form der Sklaverei, wahrscheinlich hätten die
Lewenekhee einfach nur auf dem Festland nach Arbeitern fragen sollen.
Dem Andrang wären sie wohl kaum gewachsen gewesen! Aber das
widersprach wohl ihrer räuberischen Natur.
Nun, wenn man
sich also die Treppe hinaufgearbeitet hat, betritt man sofort die
gewaltige Versammlungshalle, die zur Südseite mit in sich gedrehten
Säulen abgestützt ist. Der Boden besteht aus einem schimmernden
Felsgestein, welches gekörnt und später an der Oberfläche
wieder versiegelt wurde, so dass je nach Lichteinfall und Standort
die unterschiedlichsten Farbenspiele und Effekte auftreten. Durch
die hohen und schmalen Fenster in unterschiedlichen Farben ist das
Gebäudeinnere in ein Farbenspektakel der besonderen Art getaucht
und gerade die Prozesse am frühen Morgen der Tage, wenn die
Sonnen nacheinander ihr Licht entsenden sind besonders beliebt,
und sei es nur wegen des Farbenspiels. Das Gebäude selbst ist
am Grunde achteckig und strebt leicht nach Innen, ab der Höhe
von etwa fünfzehn Spannen streben die acht Seitenwände
zu einer spitzen Kuppel an, die sich zur Hälfte in einem Rund
verliert. Selbst die größten der Lewenekhee können
in dem Gebäude noch bequem fliegen und sich einen der besseren
Plätze sichern.
Heute früh
verhandelt der Iudex Dezîn einen besonders prekären Fall,
der in der Gesellschaft der Lewenekhee ungern gesehen wird. Einen
Fall, in dem der Iudex keine große Wahl hat, sondern das Gesetz
selbst das Strafmaß vorschreibt. Angeklagt - und bereits durch
zahllose Zeugenaussagen überführt - ist der Arbeiter Lokan
Ferris der versuchten Vergewaltigung einer anderen Arbeiterin. Nach
altem Brauch trägt der Angeklagte eine Kette an Fuß und
Hals, die an einem Ankerpunkt im Gebäude gesichert wird. Dies
basiert ursprünglich darauf, dass ein Angeklagter der Lewenekhee
am davonfliegen gehindert werden soll. Lokan Ferris Ketten
sind demzufolge nur leicht und eher Zierwerk, als das sie ihn wirklich
hindern könnten, davonzulaufen. Aber wohin sollte er schon
laufen? Die Seilbahn kann er nicht benutzen, die Luftschiffe sind
gesichert und bewacht und fliegen kann der gute Mann auch nicht.
Da bliebe dann nur der Sprung von der Felseninsel hinab auf die
umgebenden Klippen und die sehr tief unten tobende See!
So steht er also
da und wartet mit gesenktem Kopf auf das was jetzt kommt. Allerdings
hat er keine Ahnung, was genau da kommen wird ... Die Verhandlungen
der Lewenekhee werden normalerweise in der Landessprache geführt,
die aber für Humanoide sehr schwer verständlich oder zu
erlernen ist, also hat man sich traditionell darauf geeinigt, den
Prozess in der gemeinsamen Sprache zu führen.
Der Iudex selbst
gehörte zu einer der kleineren Libellenarten, sein roter Leib
schimmerte in dem morgendlichen Farbenspiel, die Flügel waren
seitlich auf den mit blauem, samtenem Tuch Boden gelegt und bildeten
einen wunderbaren Kontrast. Iudex Dezîn war kein Neuling,
er hatte schon vor langen Jahren Prozessen vorgestanden und verfügte
über ausreichende Erfahrung. Dennoch, während der vorangegangenen
Zeugenvernehmungen war immer wieder ein leichtes Vibrieren durch
seine Flügel gegangen, so als sei ihm der verhandelte Tatbestand
äußerst zuwider. Dezîn hatte extra nachegschlagen:
eine Vergewaltigung war zuletzt vor zwölf Jahren verhandelt
worden.
Lokan Ferris,
die s-Laute klangen bei den Lewenekhee stets zischend und hörten
sich deshalb gefährlicher an, als es eigentlich sein sollte,
dieses Tribunal hat dich für schuldig befunden, am Tag
der Schatten zum zweiten Viertel des ersten Mondes die Arbeiterin
Genau Juwel vergewaltigen zu wollen. Nach dem Recht unseres Volkes
ist bereits dieser Versuch strafbar wie Tat selbst. Der Angeklagte
blickte zu keinem Zeitpunkt auf. Ich kann nicht sagen, dass
es mich besonders freut, diese Verhandlung zu führen, da mir
der Sinn der Tat nicht klar ist. Wie dem auch immer sei, verkünde
ich nun das Strafmaß: Lokan Ferris, gemäß geltendem
Recht wirst du zum Tode verurteilt. Du wirst an den Fels des Rechts
gebunden und verbleibst dort ohne beachtet zu werden, bis der Tod
eintritt!
Lokan Ferris blickte
ruckartig auf. Was?! Das könnt ihr nicht tun ... Die
Todesstrafe ... Ich meine ... Das Entsetzen war nicht gespielt,
er schien wirklich keine Ahnung von den Konsequenzen gehabt zu haben.
So ist das
Gesetz, fügte der Iudex leiser hinzu.
Das habe
ich nicht gewusst!!! Verzweiflung klang in den Worten mit.
Wenn ich das gewusst hätte ...
Was wäre
dann anders? setzte der Richter ohne Regung nach.
Na dann
hätte ich sie in Ruhe gelassen. Ich bin doch nicht verrückt!
Soll das
heißen, wenn du dir über die Konsequenzen im Klaren gewesen
wärst, hättest du nicht versucht eine Frau zu vergewaltigen?
Natürlich
nicht! Um Rakirrs Willen ich hatte ja keine Ahnung! Seid doch gnädig,
es ist ja nichts passiert. Er fiel auf die Knie nieder und
jammerte vor sich hin.
Eine Weile war
nichts außer dem Jammern des Verurteilten zu hören, dann
hoben sich die Flügel des Iudex leicht. In diesem Fall
zeigt das Gericht Gnade. Ein Raunen ging durch die Menge der
versammelten Menschen, ein Zischeln und Vibrieren der Flügel
begleitet den Kommentar des Richters auf Seiten der Lewenekhee.
Aber das
Gesetz sagt ...! rief die Überfallene aufgebracht dazwischen
und war aufgesprungen.
Ruhe!
verlangte Dezîn mit Nachdruck, musste sich jedoch noch zweimal
wiederholen und zu seinesgleichen in der Landessprache nachsetzen.
Das Gericht zeigt Gnade und wird dich aus unserem Reich verbannen.
Ein Schmunzeln strich über das Gesicht Lokans. Dennoch,
kommentierte der Iudex die Gefühlsregung des Verurteilten,
ist dies kein Grund zur Freude für dich. Wir wissen,
dass andere Völker keinerlei solche Strafe für dein Verbrechen
an einem anderen Lebewesen kennen. Da dich nach deinen eigenen Worten
nur das Strafmaß von der Tat abgehalten hätte muss ich
davon ausgehen, dass du in einem anderen Land mit einem geringeren
oder keinem solchen Strafmaß die Tat erneut ausführen
wirst. Aus diesem Grunde wirst du vor deiner Verbannung von deinen
Geschlechtsteilen befreit und an deutlich sichtbarer Stelle im Gesicht
für alle Welt gezeichnet, so dass man sich vor dir in Acht
nehmen kann. Das Verfahren ist beendet, der Spruch getan. So soll
es geschehen!
Jubel brandete
auf der Seite der Menschen auf und Flüche begleiteten den verdutzten
Verurteilten. Sein Das könnt ihr doch nicht tun ...
ging in dem Trubel unter, während die ersten bereits das Gebäude
verließen.
Tage später
wurde das Urteil der Reihe nach vollstreckt. Zuerst wurde die entsprechende
Brandmarkung vorgenommen und der Patient gesund gepflegt, dann folgte
die Operation und eine Zeit der Erholung, bis er gesundheitlich
wieder genesen war und schließlich Abtransport auf das Festland.
Und obwohl Iudex Dezîn vom geschriebenen Gesetz abgewichen
war, gab es keinerlei Beschwerden.
© April 2000, Thomas Klaus
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