Das Urteil

 

Die Lin haben wir ja bereits kennen gelernt … Weit abseits vom Treiben auf den großen Kontinenten Rakirrs leben die Lewenekhee, eine hochintelligente und weit entwickelte Spezies von unterschiedlichen Libellen. Während sie noch vor gar nicht all zu langer Zeit räuberisch über die Kontinente herfielen und Sklaven verschleppten, sind sie inzwischen ein recht friedliches Volk geworden, welches sich der Wissenschaft und Kunst verschrieben hat. Die Lewenekhee haben ein uraltes und ausgefeiltes Rechtssystem, dass natürlich auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten ist. Allerdings sei gesagt - und dies klingt in "Das Urteil" auch sehr deutlich an - haben sie ihre Sklaven gleichermaßen an ihrem Wissen teilhaben lassen, da sie wussten, dass diese die ‚Spires', Felsnadeln inmitten eines aus dem Betrachtungswinkel der anderen Völker noch unerforschten Ozeans, nie würden verlassen können.

Und wie sieht nun ein Urteil eines Richters der Lewenekhee aus, wenn ein Tatbestand verhandelt wird, der zwei menschliche Sklaven betrifft und der unter den Libellen zuletzt vor Jahren einmal vorkam? Iudex Dezîn weicht in seinem Urteil zwar von den vorgeschriebenen Richtlinien ab, zeigt dabei aber eine Weitsicht, die wir uns vielleicht mitunter von unseren eigenen Richtern auch einmal wünschen würden … Auch wenn das Urteil vielleicht nicht ganz so ausfallen würden, wie wir es am Ende der Verhandlung erfahren.

"Das Urteil" führt zudem die Lewenekhee als Rasse auf Rakirr ein und gibt auch einen sehr kurzen Einblick in die Geschichte dieses Volkes.

 

 

 

Es war nicht nur einfach irgendein Gerichtssaal. Dies war der Gerichtssaal schlechthin und wer ihn als Angeklagter betrat oder als solcher hinein geschleppt wurde, dem stockte der Atem. Wer als Zeuge oder Besucher kam, versank fast in Ehrfurcht vor dem meisterlichen Bauwerk und wer als Richter kam, genoss es, welchen Eindruck das Gebäude immer wieder aufs Neue machte. Und die Lewenekhee waren stolz auf dieses Gebäude, welches ihre Vorfahren bereits vor hunderten von Jahren errichtet hatten. Eine nachgerade monströse Freitreppe führte direkt von der steil abfallenden Klippe hinauf zum Portal. Am Fuße der Treppe war eine Landefläche für das Libellenvolk sowie die Station einer Seilbahn, welche die Felsnadel mit einer anderen der steilen Felseninseln verband und es den nicht geflügelten Bewohnern des Reiches der Lewenekhee zu ermöglichen, nach dort zu gelangen. Außerdem befand sich auch noch eine Anlegeplattform für die Luftschiffe am linken Ausleger, damit auch wirklich jeder an den Prozessen teilnehmen konnte. Alle Prozesse des Libellenvolkes waren seit geraumer Zeit öffentlich und die Lewenekhee genossen es, wenn wieder einmal richtig aus dem Vollen geschöpft wurde.

Vor noch nicht einmal zweihundert Jahren waren die Lewenekhee gefürchtete Luftpiraten und raubten selbst aus den weit entfernten Ländern Sklaven und was sie sonst noch benötigten. Allerdings waren sie bereits seit Jahrhunderten zivilisiert und pflegten Kunst, Kultur, verfügten über eine sehr akribische Geschichtsschreibung und beschäftigten sich mit allen Wissenschaften. Da sie auf ihren Felseninseln mehr oder weniger unangreifbar waren, fühlten sie sich als die Herren der Welt. Und streng genommen sind sie es auch noch heute ... Aber irgendwann kehrte eine gewisse Friedfertigkeit ein und sie stellten die Raubzüge ein, entließen alle Sklaven in die Freiheit und widmeten sich mehr sich selbst und den traditionellen wie arkanen Wissenschaften. Das Rechtssystem der Lewenekhee ist legendär. Festgehalten wurde lediglich, was verboten ist, die Strafen legen – bis auf wenige im Gesetzestext genannte Ausnahmen – die Richter selbst fest. Es gibt keine Unterschiede zwischen Zivil- und Strafsachen und seit der Gleichstellung der Sklaven gelten die Gesetze der Lewenekhee auch für alle Humanoiden, die sich auf den Felsnadeln niedergelassen haben.

Ohne sich groß zu wundern, blieben so gut wie alle ehemaligen Sklaven bei den Libellen, denn in der hiesigen Sklaverei ging es ihnen zumeist wesentlich besser, als in ihren alten Heimatländern und sie waren zudem auch freier als auf dem Festland. Jedenfalls, wenn wir mal davon absehen, dass man die Inseln ohne Flügel oder ein Luftschiff nicht verlassen kann. Die Sklaven der Lewenekhee sind hochgebildet, denn alle Bildungseinrichtungen standen ihnen in ihrer freien Zeit zur Verfügung, außerdem standen sie als Staatssklaven unter dem besonderen Schutz der regierenden Kaste. Ihre Aufgaben bestanden zumeist darin, sich der Landwirtschaft auf den Terrassengrundstücken sowie dem Fischfang innerhalb der Felsenriffe zu widmen. Eine sehr zivilisierte Form der Sklaverei, wahrscheinlich hätten die Lewenekhee einfach nur auf dem Festland nach Arbeitern fragen sollen. Dem Andrang wären sie wohl kaum gewachsen gewesen! Aber das widersprach wohl ihrer räuberischen Natur.

Nun, wenn man sich also die Treppe hinaufgearbeitet hat, betritt man sofort die gewaltige Versammlungshalle, die zur Südseite mit in sich gedrehten Säulen abgestützt ist. Der Boden besteht aus einem schimmernden Felsgestein, welches gekörnt und später an der Oberfläche wieder versiegelt wurde, so dass je nach Lichteinfall und Standort die unterschiedlichsten Farbenspiele und Effekte auftreten. Durch die hohen und schmalen Fenster in unterschiedlichen Farben ist das Gebäudeinnere in ein Farbenspektakel der besonderen Art getaucht und gerade die Prozesse am frühen Morgen der Tage, wenn die Sonnen nacheinander ihr Licht entsenden sind besonders beliebt, und sei es nur wegen des Farbenspiels. Das Gebäude selbst ist am Grunde achteckig und strebt leicht nach Innen, ab der Höhe von etwa fünfzehn Spannen streben die acht Seitenwände zu einer spitzen Kuppel an, die sich zur Hälfte in einem Rund verliert. Selbst die größten der Lewenekhee können in dem Gebäude noch bequem fliegen und sich einen der besseren Plätze sichern.

Heute früh verhandelt der Iudex Dezîn einen besonders prekären Fall, der in der Gesellschaft der Lewenekhee ungern gesehen wird. Einen Fall, in dem der Iudex keine große Wahl hat, sondern das Gesetz selbst das Strafmaß vorschreibt. Angeklagt - und bereits durch zahllose Zeugenaussagen überführt - ist der Arbeiter Lokan Ferris der versuchten Vergewaltigung einer anderen Arbeiterin. Nach altem Brauch trägt der Angeklagte eine Kette an Fuß und Hals, die an einem Ankerpunkt im Gebäude gesichert wird. Dies basiert ursprünglich darauf, dass ein Angeklagter der Lewenekhee am davonfliegen gehindert werden soll. Lokan Ferris‘ Ketten sind demzufolge nur leicht und eher Zierwerk, als das sie ihn wirklich hindern könnten, davonzulaufen. Aber wohin sollte er schon laufen? Die Seilbahn kann er nicht benutzen, die Luftschiffe sind gesichert und bewacht und fliegen kann der gute Mann auch nicht. Da bliebe dann nur der Sprung von der Felseninsel hinab auf die umgebenden Klippen und die sehr tief unten tobende See!

So steht er also da und wartet mit gesenktem Kopf auf das was jetzt kommt. Allerdings hat er keine Ahnung, was genau da kommen wird ... Die Verhandlungen der Lewenekhee werden normalerweise in der Landessprache geführt, die aber für Humanoide sehr schwer verständlich oder zu erlernen ist, also hat man sich traditionell darauf geeinigt, den Prozess in der gemeinsamen Sprache zu führen.

Der Iudex selbst gehörte zu einer der kleineren Libellenarten, sein roter Leib schimmerte in dem morgendlichen Farbenspiel, die Flügel waren seitlich auf den mit blauem, samtenem Tuch Boden gelegt und bildeten einen wunderbaren Kontrast. Iudex Dezîn war kein Neuling, er hatte schon vor langen Jahren Prozessen vorgestanden und verfügte über ausreichende Erfahrung. Dennoch, während der vorangegangenen Zeugenvernehmungen war immer wieder ein leichtes Vibrieren durch seine Flügel gegangen, so als sei ihm der verhandelte Tatbestand äußerst zuwider. Dezîn hatte extra nachegschlagen: eine Vergewaltigung war zuletzt vor zwölf Jahren verhandelt worden.

„Lokan Ferris“, die s-Laute klangen bei den Lewenekhee stets zischend und hörten sich deshalb gefährlicher an, als es eigentlich sein sollte, „dieses Tribunal hat dich für schuldig befunden, am Tag der Schatten zum zweiten Viertel des ersten Mondes die Arbeiterin Genau Juwel vergewaltigen zu wollen. Nach dem Recht unseres Volkes ist bereits dieser Versuch strafbar wie Tat selbst.“ Der Angeklagte blickte zu keinem Zeitpunkt auf. „Ich kann nicht sagen, dass es mich besonders freut, diese Verhandlung zu führen, da mir der Sinn der Tat nicht klar ist. Wie dem auch immer sei, verkünde ich nun das Strafmaß: Lokan Ferris, gemäß geltendem Recht wirst du zum Tode verurteilt. Du wirst an den Fels des Rechts gebunden und verbleibst dort ohne beachtet zu werden, bis der Tod eintritt!“

Lokan Ferris blickte ruckartig auf. „Was?! Das könnt ihr nicht tun ... Die Todesstrafe ... Ich meine ...“ Das Entsetzen war nicht gespielt, er schien wirklich keine Ahnung von den Konsequenzen gehabt zu haben.

„So ist das Gesetz“, fügte der Iudex leiser hinzu.

„Das habe ich nicht gewusst!!!“ Verzweiflung klang in den Worten mit. „Wenn ich das gewusst hätte ...“

„Was wäre dann anders?“ setzte der Richter ohne Regung nach.

„Na dann hätte ich sie in Ruhe gelassen. Ich bin doch nicht verrückt!“

„Soll das heißen, wenn du dir über die Konsequenzen im Klaren gewesen wärst, hättest du nicht versucht eine Frau zu vergewaltigen?“

„Natürlich nicht! Um Rakirrs Willen ich hatte ja keine Ahnung! Seid doch gnädig, es ist ja nichts passiert.“ Er fiel auf die Knie nieder und jammerte vor sich hin.

Eine Weile war nichts außer dem Jammern des Verurteilten zu hören, dann hoben sich die Flügel des Iudex leicht. „In diesem Fall zeigt das Gericht Gnade.“ Ein Raunen ging durch die Menge der versammelten Menschen, ein Zischeln und Vibrieren der Flügel begleitet den Kommentar des Richters auf Seiten der Lewenekhee.

„Aber das Gesetz sagt ...!“ rief die Überfallene aufgebracht dazwischen und war aufgesprungen.

„Ruhe!“ verlangte Dezîn mit Nachdruck, musste sich jedoch noch zweimal wiederholen und zu seinesgleichen in der Landessprache nachsetzen. „Das Gericht zeigt Gnade und wird dich aus unserem Reich verbannen.“ Ein Schmunzeln strich über das Gesicht Lokans. „Dennoch“, kommentierte der Iudex die Gefühlsregung des Verurteilten, „ist dies kein Grund zur Freude für dich. Wir wissen, dass andere Völker keinerlei solche Strafe für dein Verbrechen an einem anderen Lebewesen kennen. Da dich nach deinen eigenen Worten nur das Strafmaß von der Tat abgehalten hätte muss ich davon ausgehen, dass du in einem anderen Land mit einem geringeren oder keinem solchen Strafmaß die Tat erneut ausführen wirst. Aus diesem Grunde wirst du vor deiner Verbannung von deinen Geschlechtsteilen befreit und an deutlich sichtbarer Stelle im Gesicht für alle Welt gezeichnet, so dass man sich vor dir in Acht nehmen kann. Das Verfahren ist beendet, der Spruch getan. So soll es geschehen!“

Jubel brandete auf der Seite der Menschen auf und Flüche begleiteten den verdutzten Verurteilten. Sein „Das könnt ihr doch nicht tun ...“ ging in dem Trubel unter, während die ersten bereits das Gebäude verließen.

Tage später wurde das Urteil der Reihe nach vollstreckt. Zuerst wurde die entsprechende Brandmarkung vorgenommen und der Patient gesund gepflegt, dann folgte die Operation und eine Zeit der Erholung, bis er gesundheitlich wieder genesen war und schließlich Abtransport auf das Festland. Und obwohl Iudex Dezîn vom geschriebenen Gesetz abgewichen war, gab es keinerlei Beschwerden.


© April 2000, Thomas Klaus