Die neue Praxis

Der Arzt - 2

 

Willkommen auf Rakirr! Willkommen in der Wüstenstadt Dahenn!

Dahenn, Heimat der Lin, liegt in am Rande einer großen Wüste, die westlich von der Stadt schroff zum Meer hin ab fällt. Lin sind Gauner, Ganoven, Meuchler und erfreuen sich bei den anderen Zivilisationen nicht sehr großer Beliebtheit, da sie als äußerst verschlagen und wenig vertrauenswürdig gelten.

Die Grundidee der ersten Erzählung bestand darin, die Stadt und ihre Bewohner selbst besser kennen zu lernen und dies gab mir die Möglichkeit, hier bereits einige bekannte Charaktere und wichtige Orte zu installieren, die sowohl für das Rollenspielprojekt, als auch weitere Geschichten von Bedeutung sein würden.

Der ursprüngliche Titel des ersten Ausflugs nach Dahenn "Der Arzt" wurde dann sehr schnell umgestellt und in "Ankunft in Dahenn" verwandelt, nachdem mir klar wurde, dass hier noch weitere Abenteuer dieses Arztes und seiner Bekannten folgen würden.

Es sind ein paar Tage vergangen und der Arzt Razzun mag sich vorsichtig eingelebt haben, aber die Aktionen rund um seine Ankunft und die seltsamen Umgangsformen der Lin beschäftigen ihn und machen das Leben nicht gerade leichter.
"Der Arzt" ist eine Serie, in der Razzun nicht immer im Mittelpunkt stehen soll, sondern sich die Geschichten um ihn herum spinnen und er mitunter auch nur am Rande auftaucht. Zwar wird er hier eingerichtet, nach dem das richtige Haus gefunden wurde, wir erfahren aber auch eine ganze Menge mehr über die Lin und ihre Stadt Dahenn, die örtlichen Umgangsformen außerhalb der ‚Halle des Gelages' und natürlich auch über die klimatischen Bedingungen.


- Teil 1: Ankunft in Dahenn
- Teil 2: Die neue Praxis
- Teil 3: Der Ring von Agrinol
- Teil 4: Angriff auf Dahenn


 

 

 

Es erwies sich als außerordentlich schwierig, Räume für Razzuns Praxis zu finden. In Dahenn ist nichts einfach und es galt, den verschiedenen Einflussgebieten der Lin-Banden Rechnung zu tragen. Schließlich sollte der neue Arzt nicht gleich an einem Stahlleiden versterben, wenn er sich nicht an die für ihn noch neuen Gepflogenheiten hielt. Obendrein stellte Razzun auch noch gewisse Ansprüche, die seine neuen Förderer zu berücksichtigen versuchten. Einmal war es fast so weit, dass das passende Gebäude gefunden war. Leider stellte sich heraus, dass die Bewohner nicht wirklich Willens waren, es für den potenziellen neuen Besitzer zu räumen. Der kurze und heftige Disput darüber, wer in diesem Teil der Stadt das Sagen hatte, wurde jäh von Razzun unterbrochen, der, sehr zum Unverständnis von Firfin und seinen Begleitern, auf das Haus verzichtete, um niemanden auf die Straße zu setzen. Die Eigentümer waren allerdings ebenfalls sehr verwundert, dass sie bleiben durften … Denn eigentlich war es ihnen lediglich darum gegangen, die höchstmögliche Entschädigung herauszuschlagen.
Gegen Mittag war dann endlich ein kleineres Gebäude mit verblichenem roten Anstrich gefunden, das etwas heruntergekommen wirkte. Firfin wunderte sich einmal mehr über Razzuns Geschmack.
„Ist es nicht etwas klein?“ Firfin beäugte das Haus neugierig. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass es für einen Mann deines Standes ausreichend repräsentativ ist.“
„Es geht hier nicht um meinen Stand, sondern darum, dass es praktisch und einfach zu unterhalten ist“, entgegnete Razzun, der sich direkt im Vorbeigehen für das kleine Haus erwärmt hatte. Eine doppelflügelige Tür mit zahlreichen Verzierungen, in der ersten Etage führte ein verwinkelter Balkon zu den Räumen und in das Geschoss darüber sowie zu einer Dachterrasse, auf der sich offensichtlich bereits zahlreiche Pflanzen angesiedelt hatten. „Außerdem gefällt es mir …“
„Gut, so soll es denn sein.“ Firfin ging auf die Tür zu und fingerte einen Augenblick am Schloss herum. Er rümpfte die Nase, als ihm die abgestandene Luft entgegen kam und trat wieder einen Schritt zurück. Dann winkte er den anderen Lin zu, die in einem Tross hinter Razzun hergelaufen waren.
„Na endlich!“, maulte Seklin, der einen der riesigen Transportsäcke Razzuns schleppte.
„Hast du ein Problem?“ Firfin funkelte Seklin böse an.
„Ich nicht, aber mein Rücken. Weiß doch der Wüstengeist, was in diesem Sack ist.“ Seklin schob sich an Firfin vorbei in das Haus. „Ohhh ... Das stinkt hier!“
„Dann fangt endlich an, aufzuräumen und zu lüften. Ich will … Oder sagen wir besser, Qwerlin will alles bis heute Abend fertig gestellt wissen damit Razzun einziehen kann!“ Firfin ließ keinen Zweifel daran, dass Razzun noch heute sein neues Domizil beziehen oder es eine Menge Ärger geben würde. „Ich bin sicher, Qerlin würde den Weg ungern hierher machen, um das Haus an Razzun zu übergeben, um dann feststellen zu müssen, dass ihr unfähig gewesen seid, es herzurichten!“ Neun weitere Lin betraten mal murrend, mal schweigend das Haus und ergingen sich drinnen in leisen Kommentaren. Nach einer kurzen Inspektion begannen sie mit den Arbeiten.
„So“, grinste Firfin Razzun an, „das hätten wir erledigt. Heute Abend, wahrscheinlich sogar früher, ist dein neues Haus fertig. Wirst du die Praxis sofort eröffnen?“
Razzun nickte. „Sicher. Morgen werde ich mit der Arbeit beginnen und zunächst einmal überall Zettel aushängen, dass ich hier eine Praxis unterhalte. Sag mal, Firfin, dies ist doch das Gebiet deines Onkels?“
„Ja.“
„Können denn die anderen Lin hierher kommen, ohne gleich … nun, ja … angegangen zu werden?“ Razzun zog die Augenbrauen hoch.
„Hm … ich denke das haben wir noch nicht bedacht“, Firfin musterte den Arzt nachdenklich. „Onkel wird es nicht mögen, wenn du seine Feinde behandelst. Auf der anderen Seite wird er einsehen müssen, dass es anderen möglich sein sollte, deine Dienste in Anspruch zu nehmen. Ich werde mit ihm über eine adäquate Regelung reden, aber ich kann dir versichern, dass das nicht einfach sein wird. Je nachdem wie seine Laune heute ist, werde ich vielleicht erst einmal den Mund halten und einen günstigen Moment abpassen. Und du verkneifst dir bitte jeden Kommentar in diese Richtung!"
„Gut. Ich werde schweigen wie die Flaute auf hoher See.“ Razzun betrachte stolz sein neues Domizil. Zwar wirkte das Haus neben den anderen größeren Gebäuden nicht gerade pompös, aber es hatte einen anderen Baustil und hob sich deutlich von dem Rest der Häuser ab. Wenn erst einmal der Anstrich erneuert wurde ... Er seufzte zufrieden. Alles lief sehr viel besser, als er es erwartet hatte. Und wenn er bedachte, dass er noch gestern beinahe von einer Lin-Bande am Stadtrand ermordet worden wäre, musste er die Umstände ganz besonders zu würdigen wissen.

Eine in schwarz gekleidete und vermummte Gestalt hatte sich unbemerkt an Razzun und Firfin herangeschlichen. Sie tippte Razzun auf die Schulter, der sich ruckartig umdrehte und zunächst überrascht, dann erfreut in grünlich funkelnde Augen blickte. Auch Firfin drehte sich um und seufzte entnervt.
„Die Daykîn bieten dir Hilfe bei der Einrichtung und Renovierung an, Razzun“, sagte die vermummte Gestalt tonlos.
„Eine Hilfe, die ich gerne annehme.“ Razzun verbeugte sich vor der Daykîn.
„Und wie kommt er zu der Ehre?“, fragte Firfin unwirsch.
„Was geht dich das an?“, zischte die Vermummte böse. „Wir können die Hilfe eines Arztes ebenso gebrauchen, wie jeder andere in der Stadt!“
„Ohhh …“ Firfin spielte den Überraschten. „Ich dachte die Daykîn werden nicht verletzt.“ Ein Lächeln flog über sein Gesicht, das jäh erstarb, als er sich mit einem gebogenen Messer an seiner Kehle konfrontiert sah.
„Natürlich nicht, du Wurm! Aber sie werden auch schon mal krank. Hat dein Spatzenhirn das schon einmal in Erwägung gezogen?“
Razzun ging vorsichtig mit einer Hand zwischen die beiden, ohne die Daykîn zu berühren. „Ahhh … könntet ihr das bitte lassen? Ich nehme die Hilfe gerne an und ich denke nicht, dass Qwerlin etwas dagegen hat.“ Es dauerte noch einen Augenblick, bis die Beiden voneinander lassen konnten, aber schließlich trat Firfin einen Schritt zurück und drehte sich um.
„Kluge Entscheidung!“ murrte die Daykîn, wandte sich darauf an Razzun. „Komm wir gehen die anderen holen, dann kann ich dich auch gleich vorstellen.“ Sie hatte den Dolch bereits verschwinden lassen und zog Razzun drängelnd am Ärmel.
„Na gut“, antwortete Razzun nachdenklich und blickte die schwarz Gekleidete etwas erstaunt an. „Pass auf, dass nichts verschwindet, Firfin!“
„Sehr witzig!“ maulte der Lin ohne sich umzudrehen.

Die Daykîn ging vor Razzun her und mit gesenktem Haupt schlichen die Lin an ihr vorbei und machten schleunigst Platz. In einer der Seitengassen blieb sie stehen und lehnte sich kurz an die Wand, um dann weiter zu gehen. Als sie eine niedrige Türe erreichten, blieb sie stehen, klopfte in einer offensichtlich vereinbarten Folge an der Tür, die dann nach Innen aufschwang und einen düsteren Raum freigab. Sie taumelte langsam hinein und Razzun sprang förmlich hinterher, um sie im letzten Augenblick aufzufangen.
„Du bist tot, Arzt“, wisperte sie mehr, als dass sie sprach, und wässrige Augen blickten in Razzuns. Allerdings hielt sie diesmal keinen Dolch an sein Brustbein, sondern die Arme hingen schlaff herunter.
„Dann haben wir wohl etwas gemeinsam“, murrte Razzun und legte sie auf eine nahe Liege. Eine weitere schwarz gekleidete Gestalt stand wie aus dem Nichts neben Razzun.
„Hilf ihr, wenn du kannst, Arzt!“ Der andere Daykîn, offensichtlich ein Lin, nahm seine Kapuze ab und funkelte Razzun an.
„Wenn sie mich lässt!“
„Sie wird … Aber sei gewarnt! Wenn du jemandem davon erzählst, bist du schneller tot, als ein Blitzschlag dich niederstrecken würde.“

Razzun wusste nur zu genau, dass die Drohung ganz sicher nicht aus der Luft gegriffen war. Behutsam zog er den Handschuh von der feingliedrigen Hand und fühlte die Temperatur, nachdem er die Kapuze vom Gesicht entfernt hatte. Vorsichtig öffnete er die Schnüre der Jacke und bat den Lin, ihm beim Ausziehen zu helfen. Der Anblick des Armes ließ selbst Razzun erschaudern.
„Du meine Güte!“, rief er. „Warum hast du damit so lange gewartet? Der ganze Arm ist bereits entzündet und du hast Fieber ... Ich brauche einige meiner Tinkturen und Verbände.“ Er sah den Lin durchdringend an. „Kannst du den großen dunkelgrauen Sack aus meinem Haus holen, ohne dass es jemand merkt?“
Der Lin grinste unverschämt und nickte kurz.
„Das ist mal sicher“, sagte er selbstbewusst, setzte die Kapuze auf und beugte sich über die Elfe. „Bin gleich zurück, Shiniia. Ich beeile mich.“ Und dann schien der Boden ihn verschluckt zu haben.

„Shiniia, hm?“ Razzun begann mit einem Lappen und dem Wasser aus einem herumstehenden Krug die Stirn der Elfe zu kühlen.
„Wenn du den Namen jemals erwähnst, wenn wir nicht alleine sind“, flüsterte sie mit vor Schmerz verzerrtem Gesicht, „kannst du dir sparen mich jetzt zu heilen.“
„Um ganz ehrlich zu sein, kleine Lady“, Razzun blickte besorgt drein, „bin ich mir nicht sicher, ob ich dir überhaupt noch helfen kann. Ich wünschte, ich könnte Wunder vollbringen, aber wir werden uns wohl mit der Medizin begnügen müssen. Auf jeden Fall wirst du eine Weile nicht herumlaufen können. Das wird allerdings auffallen ...“
„Sirrfin hat bereits verbreitet, dass ich für einen anderen Auftraggeber nach Sekruiya muss ... Er bringt mich später in den Keller deines Hauses und bleibt dann auch da.“ Sie keuchte vernehmlich. „Er wird dich später so oder so bezahlen.“
„Jaja, das kann warten ... Wo bleibt er denn?“ Razzun blickte nervös zur Tür. „Also das wäre schneller gegangen wenn ich die Sachen selbst geholt hätte.“
Shiniia versuchte zu lachen, brachte aber eher ein hechelndes Husten zustande. „Es wäre aber sicher aufgefallen, wenn du mit all deinen Sachen durch die Gassen läufst.“
„Je eher sie sich dran gewöhnen, dass ich hier herumlaufe um so besser!“, maulte Razzun.
„Sie werden hinter dir herspionieren, Razzun!“, antwortete Sirrfin aus dem Dunkel. „Niemand spioniert hinter einem Daykîn her, sofern er es überhaupt schafft ihm auch nur zu folgen.“
Razzun wirbelte herum und stand direkt vor Sirrfin. Er hatte nicht einmal das Öffnen und Schließen der Tür bemerkt, falls der Daykîn überhaupt die Tür benutzt hatte. „Ja, außer anderer Daykîn vielleicht“, meinte er mit leicht ironischem Unterton. „Und jetzt gib mir die Sachen!“
„Die Daykîn vertrauen einander“, wisperte Shiniia.

Razzun packte seine Sachen auf einen herumstehenden, kleinen Tisch und drehte den Docht der Lampe höher. Dann begann er mit flinken Händen verschiedene Kräuter zusammenzumischen, zerstieß dies und jenes Kristall in einem Mörser und mischte alles mit ein wenig Wasser aus dem Krug. Er wies Sirrfin an, Shiniia des Getränk langsam einzuflößen, und rührte weiter in seinen Mörsern herum. Die so produzierte Paste strich er dann vorsichtig auf den Arm und legte ein sauberes Tuch aus seinen Utensilien an.
„So, der Trank sollte das Fieber senken und die Kräutersalbe wirkt gegen die Entzündung ... Jetzt werde ich dir noch etwas gegen die Schmerzen geben. Außerdem wirst du dann schlafen.“ Razzun betrachtete Shiniia nachdenklich. „Ein Glück, dass Elfen über derart erstaunliche Heilkräfte verfügen.“
„Das ist wohl der einzige Grund, warum sie überhaupt noch herum gelaufen ist“, murrte Sirrfin, der sich am Kopfende niedergelassen hatte und die Stirn der schweißgebadeten Elfe mit einem getränkten Tuch kühlte. „Wird sie wieder gesund?“
Razzuns Blick ruhte zunächst eine Weile auf seiner Patientin und dann starrte er den Lin an. „Ich habe keine Ahnung ... Die Entzündung ist bereits sehr weit fort geschritten. Ich ... wenn sich innerhalb der nächsten drei Tage keine Besserung abzeichnet, werde ich den Arm amputieren müssen.“
Shiniias Rechte schnellte hoch und ergriff Razzuns Weste. Der Griff war immer noch ausgesprochen kräftig. „Wenn du das machst, Arzt, bringe ich dich um, sobald ich wieder laufen kann!“ Der fiebrige Blick hing an Razzuns Augen und bestand kein Zweifel, dass sie genau meinte, was sie sagte.
„Schon gut“, beschwichtigte Sirrfin sie und ergriff ihren Arm. „Ruh dich jetzt aus. Ich bleibe bei dir und nichts dergleichen wird passieren.“
Razzun blieb noch eine Weile bei der Kranken und wartete, bis sie eingeschlafen war. Nachdenklich und sorgenvoll betrachtete er sie und bemerkte dann endlich, dass seit geraumer Zeit der andere Daykin seine Aufmerksamkeit auf ihn gerichtet hatte. Stirnrunzelnd erwiderte er den Blick.
„Was ist?“ Ein nervöser Unterton hatte sich in die Stimme des Arztes eingeschlichen.
„Wenn sie stirbt …“
„Jaja“, konterte Razzun schnell und winkte ab. „Dann bringst du mich um. Weißt du, Sirrfin, eine Drohung verliert an Intensität, wenn sie einem ständig um die Ohren gehauen wird. Ich will damit nicht sagen, dass ich keine Angst vor dir oder den anderen hätte, aber ich kann den Spruch schon nicht mehr hören! Ich habe überhaupt kein Interesse daran Shiniia sterben zu lassen ... Grundsätzlich habe ich überhaupt kein Interesse daran, überhaupt jemanden sterben zu lassen. Sonst wäre ich nicht Arzt, sondern Henker geworden. Ich würde mich freuen, wenn ihr das irgendwann einmal verstehen würdet. Und ich gebe mir auch die größte Mühe, euch hier zu verstehen.“
Sirrfin hatte in der Zwischenzeit den Lappen wieder mit frischem Wasser getränkt und kühlte nach wie vor die Stirn der Elfe. Dann blickte er auf und ein kleines Grinsen umspielte seine Mundwinkel.
„Du hast ein ziemlich großes Mundwerk, Arzt. Ich kann nicht sagen, dass mir deine Ausführungen nicht gefallen würden … Ich denke du hörst den Spruch ungern, aber vielleicht nimmst du einen Rat an: Bis du dich hier eingelebt hast, solltest du dir sehr gut überlegen, mit wem du so redest! Und um es noch einmal deutlich zu machen, wenn die Kleine hier stirbt, solltest du einige gute Erklärungen haben.“
„Die Kleine?“ Razzuns Augenbrauen zuckten in die Höhe und sein Blick pendelte sich irgendwo zwischen Irritation und Neugier ein.
Sirrfin nickte knapp.
„Ja, Shiniia ist wie eine eigene Tochter für mich … Obendrein ist sie auch noch eine der besten Daykin. Also hüte dich!“

Razzun verabschiedete sich, nachdem er noch schnell einen Blick auf die Kranke geworfen und dabei Puls und Temperatur kontrollierte. Mit einem Seufzer machte er sich auf den Weg in sein neues Domizil.

Es war bereits lange nach Mittag und die staubigen Straßen Dahenns waren mehr oder weniger verlassen. Der aus Nordosten kommende leichte Wind brachte neben einer schier unerträglichen Hitze auch Sand von seiner langen Reise durch die Wüste mit und Razzun zog sich das dunkelblaue dreieckige Tuch vors Gesicht, um dem Staub und Sand zu entgehen. Ein älterer Lin schlenderte Razzun entgegen, blickte kurz auf und machte eine knappe Geste mit der rechten Hand, bei der er zwei Finger abspreizte und von sich weg gen Boden wies. Der Arzt wusste bereits, dass dies ein freundlicher Gruß war und erwiderte ihn so gut er ihn bereits beherrschte. Der Lin schritt gemessenen Schrittes weiter und hatte beim Passieren des Menschen den Kopf bereits wieder gesenkt. Die Luft flimmerte über den farbigen Bodenplatten der gut ausgebauten Straße und die Strekka-Bäume, die hier und dort wuchsen spendeten nur wenig Schatten und wirkten ebenso durstig, wie Razzun es in der Zwischenzeit geworden war. Da die Sonne mehr oder weniger über der Stadt stand, waren an fast allen Gebäuden die Fensterläden und Türen geschlossen, um die Hitze des Tages möglichst draußen zu halten. Allerdings war es Razzun klar, dass es außer Magie keine ihm bekannte Möglichkeit gab, das Innere der Gebäude wirklich kühl zu halten oder zumindest eine angenehme Temperatur zu gewährleisten.
Razzun hatte bereits beim Besuch eines sicher recht wohlhabenden Lin mit Namen Ewlin gesehen, dass die Häuser im Zentrum der Stadt in sehr gutem Zustand waren. Die Erbauer hatten die Gebäude in langen Rechtecken angeordnet und im großzügig angelegten freien Innenraum, der eine Etage tiefer lag als das Straßenniveau, jeweils eine Art Park angelegt, der neben einem künstlichen Wasserlauf und kleinen Teich mit Fischen und einer Fontäne, normalerweise auch ein recht großes Becken zum Schwimmen oder zur bloßen Abkühlung beherbergte. Zahlreiche Bänke und Pavillons unter Schatten spendenden Bäumen verstärkten den Eindruck von schierem Luxus; immerhin befand er sich in einer Stadt in der Wüste!
So sehr es den Arzt auch überraschte, waren auf Dahenns Straßen in regelmäßigen Abständen Wagen mit großen Fässern unterwegs, welche die Straßen mit Wasser besprühten, um den Staub in Grenzen zu halten und in die Kanalisation zu spülen. Alles in allem war Dahenn sauberer und wesentlich zivilisierter, als so manche andere Stadt im Westen des Kontinents. Und so zerzaust und seltsam die Lin auch anmuteten, ließen sie es an Hygiene nicht mangeln. Eigentlich hatte Razzun genau befürchtet, dass er sich hier in einem stinkenden Moloch befinden würde, aber erfreulicherweise war dem nicht so. Außerhalb der Stadtmitte und zu den Randbezirken hin gab es jedoch auch Bereiche, in denen es scheinbar keine Kanalisation gab und der Müll wurde dort an Häuserecken oder in leeren Häusern gestapelt und nicht, wie im Zentrum, täglich gesammelt und an den Stadtrand gefahren. Aber das Wüstenklima begrenzte die Zahl der Ratten und anderer von und im Müll lebender Kreaturen sehr, so dass es nicht zu einer Plage kam. Später sollte Razzun noch erfahren, dass nicht alle Lin im Luxus lebten, sondern ihr Dasein auch vom Müll der Reichen fristeten.

Razzun hatte sich verlaufen. Die Orientierung fiel ihm noch immer nicht leicht, auch wenn die Straßen und Gassen in Dahenn mehr oder weniger rechtwinklig verliefen. Irgendwann würde er vielleicht Qwerlin mal drauf ansprechen, dass die Namen der Straßen wieder leserlich angebracht wurden. Die Schilder oder Beschriftungen auf den Häusern waren entweder im Laufe der Jahre und Jahrzehnte verblichen oder die Farbe war abgeblättert und nicht mehr erneuert worden. Für den Augenblick hielt er es allerdings noch nicht für angebracht, sich in die Geschäfte der Stadt einzumischen. Irgendwann fand er dann auch die Allee des Auran – woher auch immer dieser Name kommen mochte – und sah sein Haus, an dem bereits auch außen gearbeitet wurde. Zahlreiche Lin erneuerten die leuchtend rote Fassade und setzten die Etage, den Sockel und den Rand des Balkons mit einem matten Schwarz ab. Neben den beiden anderen Häusern, die beide zwei Etagen höher gebaut waren, wirkte Razzuns neues Heim klein, fast niedlich, aber sowohl die Bauweise, als auch der Anstrich ließen es als etwas Besonderes hervorstehen.

Über eine Treppe betrat der Arzt eine kleine Terrasse, die von einer niedrigen Mauer umrandet wurde, an der sich außen jeweils zum Rand hin kleine Wasserspeier befanden, um die nach dort hin abfallende, mit dunkelroten Kacheln geflieste Terrasse zu entwässern. Es gab Zeiten, da trug Dahenn noch einen anderen Namen und lag nicht in einer Wüste ... Links und rechts von der doppelflügeligen Eingangstür, die ebenfalls einen mattschwarzen Anstrich erhalten hatte, befanden sich hohe Fenster mit nach außen gewölbtem Butzenglas, das in der grellen Sonne in allen Farben eines Regenbogens schimmerte. Schon bald stellte Razzun fest, dass man zwar von drinnen nach draußen schauen konnte, dies umgekehrt aber nicht möglich war. Auch schienen die seltsamen Glasscheiben das Sonnenlicht so zu brechen, dass die Hitze des Tages nicht in das Haus eindringen konnte. Die Räume wurden durch die Scheiben in ein mildes und vielfarbiges Licht getaucht und die ineinander verlaufenden Farben bildeten auf den Wänden stets neue Farbmuster. Erstaunt betrachtete Razzun diese Effekte und konnte sich erst nach einer gewissen Zeit davon losreißen. Der Eingang bestand aus einem langen Flur, der sich durch das gesamte Gebäude zog und etwa drei Schritte breit war. Der Boden war mit einem sich wiederholenden Mosaik ausgelegt, das beinahe wie ein kleiner Stadtplan aussah. An den Wänden hingen neue Öllampen, die allerdings noch nicht befüllt worden waren. Zur linken und rechten führten je zwei hohe, weiße Türen in dahinter liegende fast quadratische Räume. Eine Tür am Ende des Flurs öffnete den Blick auf eine dunkelgrau geflieste Terrasse, die über eine lange Treppe in einen der faszinierenden Parks führte, die Razzun schon gesehen hatte. Allerdings schienen sich die Bewohner der anliegenden Häuser nicht sonderlich um die Anlage zu kümmern. Es herrschte Wildwuchs und mit der Bewässerung nahm man es wohl auch nicht so genau, so dass zahlreiche Pflanzen ihren Kampf gegen die stechende Sonne und flirrende Hitze bereits aufgegeben hatten.
Razzun betrachtete die Anlage und legte in Gedanken schon einen ausschweifenden Kräutergarten an. Den Wasserlauf, das Fischbecken sowie auch das Schwimmbassin wollte er dann auch wieder in Betrieb nehmen, falls dies möglich und finanzierbar war. Seine Gedanken sponnen sich schon weiter und eines der Nachbarhäuser war in eine Art Krankenhaus umgebaut worden, während sich seine Patienten in der Grünanlage erholten.

Ein Räuspern holte den Arzt aus seinen Tagträumen zurück und mit einem noch in die Ferne gerichteten Blick drehte er sich um.
„Wir sind dann hier unten so weit“, bemerkte Firfin nicht ohne Stolz. „Gleich kommen die Wagen mit Möbeln und anderem Inventar. Ich muss nur noch wissen, was wo hin soll ...“
„Ihr seid schon fertig?“ Razzun staunte den jungen Lin an, der nur kurz nickte. „Oh ... ich denke, den Warteraum und die Praxis bringen wir direkt hier unten am Eingang unter. Links das Wartezimmer und rechts das Behandlungszimmer ... und in dem zweiten Raum rechts die Bibliothek. Sag mal, wie kommt man eigentlich nach oben?“
Firfin winkte kurz und ging in den hinteren Raum zur Linken. Dort befand sich eine Treppe. Durch die Tür zur Vorderfront des Hauses strömte helles Licht herein. Beide gingen nach oben und hinaus in die Hitze, die heute nur durch den leichten Wind bewegt wurde.

Auf dem Balkon standen Blumenkübel mit verdorrten Pflanzen. Ein Lin war damit beschäftigt, die Gräser und anderes Gestrüpp, das sich im Laufe der Jahre auf Dach und Balkon des unbewohnten Hauses breit gemacht hatte, zu entfernen. Er grüßte den Arzt mit einer knappen Geste und fuhr dann mit seiner Arbeit fort. Der Balkon umfasste auf der rechten Seite etwa die Hälfte des ersten unteren Raumes und zur Linken nur etwa ein Viertel, während er exakt über dem Flur bis ins hintere Drittel des Gebäudes reichte und ab der Mitte überdacht war. Im hinteren Bereich führten Türen in jeweils einen Raum der zur Rechten noch etwa in der Mitte unterteilt war. Im linken Raum führte eine Steige aufs Dach, das von einer kniehohen Mauer umgeben war.

Razzun nickte zufrieden und genoss erneut den Ausblick auf die Gartenanlage. Das war ganz nach seinem Geschmack und er würde sich sicher mit seinen Nachbarn einig werden ...

Es dauerte doch noch bis zum frühen Abend und es roch noch überall nach frischer Farbe, bis auch die obere Etage hergerichtet worden war. In den unteren Räumen herrschte rege Betriebsamkeit und die angelieferten Möbel wurden nebst anderer Utensilien, wie Teppichen, Bildern, Wandbehängen und Vitrinen hineingeschleppt und erst einmal hier und dort verstaut. Razzun dirigierte geschickt die vielen Lin, die mal murrend, dann aber kommentarlos Möbel und Gerät von hier nach dort und mitunter auch wieder zurück rückten. Mit dem Eintreffen von Qwerlin war dann auch kein Murren mehr zu hören und die Arbeit ging nur noch schneller voran. Der alte Lin zeigte sich zufrieden, auch wenn er hier und dort eine harsche Bemerkung fallen ließ und sich die so angesprochenen Lin sputeten, mit ihrer Arbeit weiter voran zu kommen. Auf der Straße vor Razzuns Haus sah es aus wie auf einem Flohmarkt, da manche Möbel nicht ins Haus passten und andere Lin ebenfalls Haushaltsgeräte oder Möbel abstellten, um den neuen Bewohner zu begrüßen. Außerdem gaben sich auch die Nachbarn die Klinke in die Hand und wünschten dem neuen Bewohner alles Gute. Sie bestaunten das Haus, als wäre es gerade eben erst dort gebaut worden. Razzun konnte sich Namen und Gesichter natürlich nicht alle merken, aber er war hoch erfreut, dass man ihn mehr oder weniger willkommen hieß. Zumindest hatte er nicht bemerkt, dass einer der Nachbarn zu dem Willkommensgruß gedrängt worden wäre und die Lin gaben normalerweise nicht viel darauf, sich zu verstellen. Außerdem, wer hatte in Dahenn schon einen Arzt gleich eine Tür weiter wohnen?
Bis vor einem guten Monat hatte es zwar eine Art Heiler gegeben, der aber auf Anraten Buhlins schnell wieder weiter gezogen war. Seine Heilkünste beschränkten sich darauf, teuer zu sein ... Von Heilung war jedenfalls nichts zu bemerken.
Der Wirbel, den Qwerlin um den Menschen machte, bereitete allerdings diversen Lin Kopfzerbrechen. Schließlich wusste man ja nicht wirklich, ob dieser Razzun auch tatsächlich ein Arzt war? Oder hatte Qwerlin ihn hierher bestellt? Die Gerüchteküche brodelte jedenfalls und Razzun war mehr oder weniger in nur einem Tag alles vom Quacksalber und Nichtskönner bis zum Wunderbringer persönlich.
Razzun versprach den Lin und insbesondere seinen Nachbarn eine Willkommensparty, sobald er wieder zu Geld gekommen sei. Qwerlin erinnerte ihn allerdings mit einem jovialen Klaps auf die Schulter, dass vor der Party erst einmal die Rechnung für Haus und Inventar bezahlt werden müsste. Razzun lächelte gequält und nickte. Irgendwie hatte er auch nicht wirklich erwartet, dass der alte Lin ihm die Sachen und das Haus schenken würde ...

„Firfin?“ Razzun blickte sich suchend um und entdeckte den Jungen, der gerade die Wünsche in Sachen Raumausstattung für die erste Etage an die schuftenden Lin weiterleitete.
„Hm?“ Firfin drehte sich um.
„Kannst du mir jemanden empfehlen, der mir Sachen besorgt, die ich für die Praxis und das Labor benötige?“
Mit einem Lächeln zeigte Firfin auf seine eigene Brust.
„Qwerlin meint, ich könnte dir zunächst einmal behilflich sein ... jedenfalls, wenn du nichts dagegen hast.“
„Überhaupt nicht!“ antwortete der Arzt hoch erfreut. „Wenn ich mich hier besser auskenne, kann ich die Sachen ja auch selbst besorgen ... Aber für den Anfang wäre ich dir sehr dankbar.“
„Keine Ursache ...“, meinte Firfin und wandte sich wieder drei anderen Lin zu, die im Schweiße ihres Angesichts außerordentlich schwere Gestelle eines gewaltigen Bettes in die erste Etage wuchteten. Razzun lernte dabei schnell diverse Flüche in der rauhen Sprache der Lin, ersparte es sich und den Arbeitern aber, nach dem Inhalt zu fragen.

Da die Nächte im Sommer kurz waren, hielt das Licht die Lin noch bis gut eine Stunde vor Mitternacht bei der Arbeit und das Haus war dann auch endlich so weit eingerichtet, dass Razzun freudestrahlend einziehen konnte. Qwerlin war zwischenzeitlich verschwunden, da er noch andere Geschäfte zu erledigen hatte und Firfin hatte sich auf den Weg gemacht, diverse Kräuter und Material für die Praxis zu organisieren. Die Liste war recht lang und so kam er auch erst kurz vor Mitternacht mit einem Handkarren zurück, auf dem zwar nicht alle Utensilien, aber dazu auch noch Nahrungsmittel verstaut waren. Razzun war hoch erfreut, fragte sich aber dann doch, woher das ein oder andere seltene Gerät wohl stammen mochte. Unten auf dem Zettel stand ein horrender Betrag, wobei Firfin versicherte, dass er es so preiswert wie möglich gemacht hatte. Auf der Rückseite war im Einzelnen aufgelistet, wem er wieviel schuldete.

Ein asthmatisch keuchender Lin hatte sich bereits im Wartezimmer niedergelassen und harrte einer Untersuchung. Qwerlin hatte ihn bei der offiziellen Übergabe des Hauses zwar angeherrscht, sich bis morgen zu gedulden, aber Razzun hatte ihm zugewinkt, noch einen Augenblick zu warten, bis sich die Aufregung legte. Bei der Gelegenheit waren natürlich auch die Führer anderer Lin-Banden und Familien zugegen. Eine recht attraktive und in edle Gewänder gehüllte Lin mit Namen Kjerlin begrüßte den Arzt überschwenglich, zwinkerte ihm dann mit einem Auge zu und drehte sich zu Qwerlin herum, der ein angewidertes Gesicht aufsetzte.
„Wie überaus freundlich von dir, Kjerlin, dass du ebenfalls zur Begrüßung unseres Arztes erschienen bist.“ Der alte Lin ließ keinen Zweifel daran, dass er auf die Anwesenheit Kjerlins durchaus hätte verzichten können, und dass er sie lieber auf einem der Monde wissen würde, als hier.
„Mein lieber Qwerlin“, troff ihre Stimme vor Ironie und sie redete betont laut und unterstrich das Gesagte mit ausschweifenden Gesten, so dass sich auch wirklich alle zu ihr umdrehten. „Wie schön, dich bei einer so noblen und edlen Geste zu sehen, unserem neuen Mitbewohner dieses Haus und all die wundervollen Sachen zu schenken! Möglicherweise habe ich dich falsch eingeschätzt, aber natürlich sind dir dadurch auch die Dienste eines überaus fähigen Arztes gewiss ... Unter dem Strich ein geschickter und überaus erfolgreicher Handel! - Nicht wahr?“, setzte sie nach einer kurzen Pause, in der Qwerlin mindestens drei Mal die Farbe gewechselt hatte und kurz vor einer Explosion stand, hinzu und blickte mit einem milden Lächeln in die Gesichter der Runde. Zustimmendes Nicken und Gratulationen an Qwerlin ließen dem Guten keine andere Wahl, als sich mit säuerlichem Grinsen zu verbeugen und hinter vorgehaltener Hand tausend Flüche auszustoßen. Er lächelte freundlich, verbeugte sich knapp vor Kjerlin und raunte ihr ein “Das wirst du mir büßen!“ zu. Sie lächelte ebenfalls freundlich zurück und entgegnete mit einem amüsierten Blick ebenfalls nur für die Ohren des alten Lin „Was auch immer, alter Kura ... Es war es auf jeden Fall wert.“
Schnell wandte sie sich an den noch immer höchst erstaunten Razzun. „Mein lieber Freund, sie wissen ja gar nicht, wie sehr mich die großzügige Geste des guten alten Qwerlin überrascht hat“, rief sie wiederum einen Hauch zu laut, so dass alle es mitbekamen. „Normalerweise kann sich der alte Knauser nämlich nicht von seinen Sachen trennen, ohne dabei unverschämt hohe Summen zu verlangen ... Jaja, das Alter!“ Mit einer kurzen Geste an Razzun und die versammelte Menge rauschte sie mit wallenden Gewändern hinaus und einige andere Lin, die ebenfalls ein unverschämtes Grinsen aufgesetzt hatten, taten es ihr gleich.
„Halt bloß die Klappe“, raunte Firfin dem Arzt zu.

„Firfin!“ brüllte Qwerlin und schnaubte vor Wut. „Wir gehen!
Und du … du …!“ Er fauchte den Arzt an, winkte dann aber ab. „Vergiss es!“ Darauf rannte Qwerlin förmlich von dannen. Firfin zuckte die Schultern und rief Razzun noch „Ich sehe dich morgen früh!“ zu, während er im Laufschritt hinter seinem Onkel her trabte.
Erst jetzt, wo auch alle anderen Lin nach und nach verschwanden, begriff er, dass er für das Haus und die Einrichtung nichts würde bezahlen müssen. Er würde sich wohl irgendwann bei dieser Kjerlin erkenntlich zeigen müssen ... jedenfalls sobald er herausgefunden hatte, wo sie wohnte. Er drückte den Arbeitern noch ein wenig Geld von seinen letzten Ersparnissen in die Hände. Die zeigten sich hoch erfreut und verschwanden ebenfalls relativ schnell.
Durch ein Husten aus dem Wartezimmer wurde Razzun wieder in die Wirklichkeit zurück geholt und er bat den wartenden Lin in das Behandlungszimmer. Nach einer halben Stunde war er mit der Untersuchung fertig und bat den Lin, morgen gegen Mittag wiederzukommen und eine Medizin abzuholen. Razzun verlangte weniger als er normalerweise kassiert hätte und der Lin bezahlte ohne zu Murren.

Der Tag hatte sich gut entwickelt, aber Razzun war nahe daran zusammenzuklappen. Er hatte den Tag über kaum etwas gegessen und nur wenig Flüssigkeit zu sich genommen. Mit kleinen Schlucken trank er aus einer Karaffe klares Wasser und setzte sich dann einen Augenblick hin, während von draußen kühle Luft ins Haus strömte und die erhitzten Steine sich langsam abzukühlen begannen. Mit der Nacht war ein stärkerer Wind aufgekommen der von Westen her über das Meer und das Schelf hinauf blies. Der Hauch von fernem Regen war in der Luft zu riechen, aber es bestand wenig bis keine Aussicht darauf, dass es in Bälde in Dahenn regnen würde. Aber die Hoffnung blieb und verheißungsvoll türmten sich am fernen Horizont im Westen, gerade noch sichtbar für Dahenns Bewohner, die Streitmacht des Wassers am Himmel, um einen neuen Feldzug gegen die Glut der Sonne zu starten. Und nur der Wind mochte wissen, ob die Wolkenberge es bis zur Stadt der Lin schaffen würden ...

In Razzuns Traum lieferten sich unaufhörlich nachrückende Wolkenkrieger, gehüllt in matte, weiße Rüstungen und bewaffnet mit Schlingen, aus denen sie große Kugeln voll Wasser auf ihre Gegner schleuderten, eine Schlacht mit schmalen lodernden Flammenkriegern, deren Schwerter ebenso feurig glommen wie sie selbst. Angetrieben von ihren unsichtbaren Kommandanten stürzten sie sich aufeinander und vergingen in Dampf und Rauch. Riesige Schleudern auf beiden Seiten bewegten Wassermassen oder Feuer über das Firmament, um in den gegnerischen Linien einzuschlagen und es war nicht absehbar, wer in diesem Krieg der Elemente obsiegen würde.
Mit einem Male wurde es ruhiger, kühler. Die Flammen zogen sich langsam aber stetig zurück und die Wolkenkrieger sammelten sich, stiegen übereinander und rückten als eine gewaltige Wand vorwärts, den Gegner endgültig zurückzudrängen.

Ein tiefes Grollen holte Razzun aus seinem Schlaf! Erschreckt blickte er sich um. Es war bereits dunkel, aber ein greller Blitz zerriss die Finsternis der Nacht und tauchte seine Wohnung in ein bizarres Licht. Die Luft war merklich abgekühlt und der Wind aufgefrischt. Verheißungsvoll kündigte das ferne Gewittergrollen Regen an, aber noch verhinderte die von der Wüste abgestrahlte Hitze das Vorrücken der Wolken bis nach Dahenn.
Razzun rieb sich die müden Augen und rückte sich zurecht, um gleich wieder einzuschlafen. Aber im nächsten Augenblick fuhr er hoch und sein Herz setzte einen Schlag aus, als er unvermittelt eine Hand auf seiner Schulter spürte. Erschreckt sprang er aus seinem bequemen Sessel auf und wirbelte herum.
„Ruhig“, sagte ein Daykin tonlos und hob beschwichtigend beide Hände.
„Verdammt!“, fluchte der Arzt und beruhigte sich augenblicklich. Er schnappte nach Luft. In der Ferne schossen Blitze über den Himmel und einen kurzen Moment später krachte es laut in der Ferne. „Wenn du mich umbringen willst, weck mich nur noch mal so!“

„So schreckhaft?“ meinte der Lin und zog die Kapuze vom Kopf, nachdem er lange Store vor die Fenster gezogen hatte. Dann holte er aus einer Tasche in seiner schwarzen Kluft eine kleine Kugel, die ein beständiges mildes Licht produzierte hervor. „Ich hab Shiniia in den Keller gebracht. Kümmere dich um sie.“ Sirrfin legte die kleine Kugel auf einem anderen Stuhl ab, trat einen Schritt zurück und war verschwunden.
Razzun hasste diese Auftritte der Daykin, obwohl er noch nicht sonderlich lange wusste, dass es sie überhaupt gab. Irgendetwas vor sich hin brummelnd nahm er die Leuchtkugel auf, ging zur Vordertüre und verriegelte sie. Dann nahm er sich die Türe zu der Gartenanlage vor und machte sich auf die Suche nach der Kellertüre. Unter der Treppe in die oberen Räume fand er die Türe, ging vorsichtig hinab und fand eine Toilette sowie einen Waschraum, zur Linken vernahm er ein leises Schnarchen und folgte diesen Lauten. Im Dunkel des anschließenden Raumes lag die Elfe auf einer provisorischen Liege und schlief fest. Die Atmung war regelmäßig, das Fieber bereits leicht gesunken. Razzun wusste aber nur zu gut, dass dies nur durch die Wirkung der Medizin erreicht worden war. Er platzierte die Kugel so, dass er Shiniia untersuchen konnte. Vorsichtig nahm er den verletzen Arm auf und begann damit, den Verband zu lösen. Einmal öffnete sie kurz die Augen, blickte einen Augenblick desorientiert umher, lächelte Razzun dann an und schlief wieder ein. Der Verband war voller Eiter und der schmierigen Paste aus Kräutern und Razzun verschwendete keinen Augenblick damit, ihn reinigen zu wollen.
Es dauerte eine Weile, bis er neue Paste angerührt hatte und den Verband erneuerte. Dann rührte er wieder ein Getränk an und pürierte ein wenig Obst, weckte die Elfe und flößte ihr sowohl den Obstbrei, als auch die Medizin ein.

Es dauerte eine ganze Woche, bis er langsam das Schmerzmittel reduzieren konnte und zuversichtlich war, dass Shiniia nicht sterben würde. Sirrfin kam ein ums andere Mal vorbei, schickte andere Daykin fort und nahm erst dann die Kapuze ab. Besorgt erkundigte er sich stets nach der Elfe, ging dann in den Keller und verbrachte die Zeit seiner Wache im Keller.

In all der Zeit sprach Shiniia nicht viel, auch wenn Razzun sie auf die ein oder andere Art aufzumuntern versuchte, bis sie eines Tages schlicht verschwunden war. Nichts deutete darauf hin, dass sie jemals über längere Zeit in seinem Haus gewesen war, um wieder zu Kräften zu kommen. Seufzend sammelte er die nun überflüssigen Verbände, Tinkturen und Geräte ein und trug sie nach oben, wo er sie reinigte und in Regale oder Schränke verstaute. Der Alltag des Arztes hatte ihn wieder und ob es nun Lin, Menschen oder Elfen waren: Mit ihren Wehwehchen waren sie alle gleich und Dahenns einzige Praxis quoll bald über vor Patienten.

Zwar wurde sein Haus nach wie vor von ein, mitunter zwei Daykin bewacht, aber die konnte Razzun nicht gut fragen, wie es der Elfe ging oder wo sie gerade war. Erst eine Woche später fand er unvermittelt eine große Kiste mit extrem seltenen Mineralien, Pulvern und Arbeitsgerät sowie einigen seltenen Lehrbüchern in seiner Praxis wieder. Das Leuchten in seinen Augen beim Durchstöbern der Kiste und raschen Überfliegen der Seiten wurde in dem Funkeln eines Augenpaares unter einer dunklen Kapuze erwidert. Razzun bemerkte weder das Kommen noch das Gehen einer bestimmten Daykin, die – schon im Gehen – zum ersten Mal in ihrem Leben „Danke“ vor sich hin murmelte.
Shiniia war offiziell von ihrem Auftrag mit der letzten Karawane zurückgekehrt. Und mit ihr zwei Gestalten, denen der lange Aufenthalt in der Wüste gar nicht gut bekommen war und die ihren Auftrag inzwischen ziemlich persönlich nahmen: Pregrin und Allur hatten es wirklich satt, dem Arzt weiter durch alle möglichen wie unmöglichen Gegenden zu folgen und sie hofften in Dahenn irgendwie zu erfahren, wohin er gereist war. Schon in der Karawane hörten sie Gerüchte, dass es in Dahenn eine neue Praxis und einen Arzt gab.