Der weise Uhu

 

Eine Herausforderung im kurzgeschichten.de Forum: Thema war ein vorgegebener Ort. Heraus kam dabei eine eher niedliche, unterhaltende Geschichte, die man durchaus auch mal dem werten Nachwuchs vorlesen kann.


 

 

 

Das verlassene Rasthaus stand an einer alten, von der Natur teilweise zurückeroberten Straße und hatte durchaus schon bessere Tage gesehen. Jetzt war es baufällig, da keine Hände sich mehr darum kümmerten, die vom Wind verschobenen Schindeln zu richten, die Wände zu erneuern, wo der Putz heruntergefallen war. Niemand ersetzte gar die zerbrochenen Scheiben, die der Wind eingedrückt oder spielende Kinder schon vor Jahren eingeworfen hatten. Das Haus stand an einem besonderen Ort! Seine Erbauer waren dereinst noch im Bilde über die verborgenen Kräfte der Natur gewesen, und deshalb war es ein Hort der Ruhe und des Friedens. Nie war unter den Bewohnern Blut geflossen ... außer natürlich, wenn sich einer der Köche mal geschnitten hatte oder aber draußen im Hof Federvieh und anderes Getier geschlachtet wurde, um den Reisenden nahrhafte Gerichte zu liefern.

Ja, in den vielen hunderten von Jahren hatte das Gasthaus viele Bewohner kommen und gehen sehen. Solche die länger blieben, sich um das Haus sorgten und den Reisenden Unterkunft, Speise und Trank boten und anderen, die schlicht Rast auf ihrem Weg suchten. Doch es war lange her, dass ein Mensch dieses Haus betreten hatte oder auch nur die Straße entlang gewandert oder gefahren war. Die Natur hatte ihr Recht eingefordert und den nun nicht mehr benutzen, asphaltierten Weg wieder zurück erobert. Das Werk der Menschen war noch nicht gänzlich verschwunden, aber in seiner Breite bereits deutlich geschrumpft und an vielen Stellen durch Wurzelwerk und neue Pflanzen aufgebrochen. Kein Auto würde hier so ohne weiteres mehr entlang fahren können.

Die Bewohner des Hauses waren in diesen Tagen viele verschiedene Tiere. Eine ganze Familie von Schleiereulen war im Dachboden eingezogen. Da die Familie beständig gewachsen war, hatten sie es sich auch in einem der Gästezimmer bequem gemacht. Die Scheibe nach draußen war zerbrochen, so dass sie ungehinderten Zugang hatten. Unten wohnte eine Großfamilie Mäuse, Ratten und mehrer Katzen, die ihren Lebensabend hier beschließen wollten. Selbst eine Fuchsfamilie und Nattern des Waldes waren hier eingezogen. Und, als sei es ein nicht ausgesprochenes Gesetz, jagte im Hause niemand den anderen, wenn man sich auch meist aus dem Wege ging. Generation über Generation wohnten die Familien hier in Eintracht, vergessen von den Menschen. Nur dann und wann war früher einmal ein Wandersmann vorbeigekommen, der neugierig in das langsam zerfallende Haus gespäht oder es einfach nur im Vorbeigehen mit einem kurzen Blick bedacht hatte. Aber selbst diese seltenen Besuche waren irgendwann ausgeblieben und es herrschte Ruhe und Frieden, selbst in den kleinen Wäldchen und Wiesen ringsum.

Eines schönen Tages jedoch war ein betagter Uhu in eines der Zimmer eingezogen, hatte sich höflich vorgestellt, und darum gebeten, ebenfalls den Rest seiner Tage hier verbringen zu dürfen. Die Eulen waren höchst interessiert an der alten Gestalt und schickten ihre Jungen zu ihr in die Ausbildung, denn er war eine der wenigen Eulenvögel, die Kenntnisse in Menschenkunde besaßen. Ein Wissen, dass durchaus hilfreich sein konnte, wie selbst der Fuchs in einem seiner langen Gespräche mit dem auf einem zerzausten Bett hockenden Uhu deutlich machte. In diesen Tagen schlief der alte Uhu allerdings meist oder döste einfach vor sich hin, während ihn die Eulen großzügig mit Nahrung versorgten, da er seine müden Knochen nicht mehr zum Fliegen erheben konnte.

Vor geraumer Zeit bemerkten die Tiere hin und wieder leichte Erschütterungen im Boden, kaum wahrnehmbar zwar, aber dennoch unnatürlich und bedrohlich. Sie versuchten es zu ignorieren, aber schon bald mussten sie feststellen, dass das Zittern und Vibrieren im Boden immer stärker wurde, und mitunter das Haus so stark erschütterte, dass Putz von der Decke rieselte, oder noch intakte Scheiben zersprangen. Dann öffnete der alte Uhu seine Augen einen Spalt, stierte durch das Fenster nach draußen und erblickte in der nächtlichen Ferne das unnatürlich Licht, welches nur Menschen nutzten, um in der Dunkelheit sehen zu können.

"Bald", murmelte er dann vor sich hin. "Bald ist es so weit."

Andere Tiere waren schon lange vor der heranrückenden, von Menschenhand geschaffenen Monstrosität geflohen, die sich ohne Unterlass, Tag und Nacht, durch den Boden fräste. Mächtige Schaufeln gruben sich tief in das Erdreich, brachten die Umgebung zum Erbeben und die Natur schrie vor Schmerz auf, wenn Baum und Strauch und Getier, das nicht in der Lage war zu flüchten, erfasst und zerrissen wurde. Dies alles landete auf einem Förderband, das die so geschundene Natur hinwegbeförderte, siebte und dann achtlos an anderer Stelle wieder aufschüttete. Die gewaltige Maschine, neben der selbst ein Mensch winzig wirkte, war nicht allein. Gemeinsam mit drei anderen hoben sie in ununterbrochender Arbeit Abgründe aus. Gewaltige Gruben im Erdreich, die sie dann auch wieder auffüllten; sehr zum Unverständnis der Tiere.

"Sie machen selbst vor ihresgleichen nicht halt", hatte Rahuu, der alte Uhu den anderen Hausbewohnern einst mitgeteilt. "Ich habe es selbst gesehen, wie sie mit diesen Maschinen ihre eigenen Städte niedergerissen haben."

"Mit den Bewohnern darin?", fragten damals die jungen Schleiereulen und rissen ihre großen Augen voller Erstaunen weit auf.

"Natürlich nicht!", hatte Rahuu dann nach einer kurzen und gehaltvollen Pause voller Spannung hinzugefügt. "Sie sind vorher weggezogen. Und so wird es auch hier sein ..." Dann wurde er immer sehr nachdenklich und war tagelang nicht ansprechbar, grübelte, wie es denen schien, die ihm Nahrung brachten.

Die Nachricht war den Tieren natürlich nicht neu. Sie wussten schon lange, dass sie hier nicht bleiben konnten, und doch wollten sie das alte Rasthaus und die Ruhe und den Frieden nicht missen, die gastliche Heimstatt, in der Generationen groß geworden waren, nicht verlassen. Doch war klar, dass sie sich den Klauen des Baggers nicht würden wiedersetzen können.

Eines Nachts, die Erschütterungen des Bodens waren inzwischen sehr heftig geworden, hatten sie sich zu einer Besprechung in dem Zimmer des alten Uhus versammelt. Die Schaufel des Baggers war in seiner beständigen Bewegung in einem Viertelkreis bereits sehr nah am Haus vorbeigezogen und sie erwarteten sie auch bald wieder zurück. Dies würde ihre letzte Nacht hier sein, auf die eine oder die andere Art, denn schon näherten sich die Scheinwerfer wieder und ein gleichmäßiges Zittern durchlief, Unheil verkündend, den Boden. Schon bald würde es einen Ort der Ruhe und des Friedens weniger geben.

"Es wird Zeit", meinte der Fuchs und warf mit Sorge einen Blick auf seine zwei Jungen und blickte dann, nicht minder betrübt, in die Runde. Schweigendes Kopfnicken hier und betretenes Schweigen herrschte, bis Rahuu sein rechtes Auge für einen Moment öffnete, in die Runde blickte und - sehr zum Erstaunen der Versammelten - lautstark "Nein!" krächzte. Dann schloss er das Auge wieder und hinterließ die Versammlung ratlos.

"Rahuu ...", begann ein Kauz, kam aber nicht weiter, denn mit einem Male durchflutete gleißendes Licht den Raum und alle riefen durcheinander und stolperten übereinander, da sie geblendet waren. Ein gewaltiges Beben durchfuhr das Haus, ließ die alten Balken ächzen und überall stürzten Möbel durcheinander. Ein Donnerschlag wie bei einem gewaltigen Gewitter folgte dem Licht und ließ selbst die Luft vibrieren.

"Das ist das Ende!", piepsten die Mäuse voller Entsetzen.

"Rettet euch!", bellte der Fuchs und griff mit den Fängen eines seiner Jungen und hoffte, seine Frau würde es ihm gleichtun.

"Zu spät!", miaute gedehnt eine der Katzen und ergab sich in das vermeintliche Schicksal, da sie zu alt und schwach war, um zu entkommen.

Und während noch alle durcheinander riefen und -liefen, zuckte ein greller Blitz vom Himmel, versetzte die Tiere in noch größere Panik und die Explosion eines Einschlags schien das Rasthaus zu zerreißen.


Dann war da Dunkelheit ... Ruhe.


Fahles Licht erhellte die Oberfläche eines kleinen Sees, Wind säuselte sanft in den Blättern der Bäume und die frische, sommerliche Brise drang ins Haus.

Nachdem sich die Aufregung gelegt hatte, standen die Hausbewohner verdutzt am offenen Fenster und bestaunten die fremdartige Umgebung.

"Seht doch!" rief eine der Eulen und blickte zum Himmel, wo ein recht großer und ein sehr viel kleinerer, dunkler Mond ihre Bahn zogen.

"Unglaublich ...", murmelte der Fuchs und drehte sich um. Dort lag Rahuu ausgestreckt auf dem Bett und auch drei Eulen hatten sich bereits um den offensichtlich toten Uhu versammelt.

"Er wird an dem Schreck gestorben sein", meinte die älteste Katze und nickte wissend. "Mir wäre es beinahe auch so ergangen."

Der Fuchs schnüffelte an dem Uhu, betrachtete ihn genauer und schüttelte dann energisch den Kopf. "Nein", sagte er leise. "Dieser Uhu ist nicht gestorben, weil er sich erschreckt hat. Seht doch, wie friedlich sein Gesicht aussieht."

Er setzte sich an den Rand der Matratze, die mitsamt dem Uhu vom Bett geworfen worden war. Alle Hausbewohner hatten sich, wie es Brauch war, um den Verstorbenen versammelt, um zu trauern.

"Dann ist es also wahr ..." Der Fuchs holte tief Luft und nahm die erstaunten und fragenden Blicke der anderen Tiere gar nicht wahr. "Es wird gesagt, dass ein wirklich weiser Uhu einmal in seinem Leben ein Wunder wirken kann."


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(c) 24. September 2004 - Thomas Klaus