Das
verlassene Rasthaus stand an einer alten, von der Natur teilweise
zurückeroberten Straße und hatte durchaus schon bessere
Tage gesehen. Jetzt war es baufällig, da keine Hände sich
mehr darum kümmerten, die vom Wind verschobenen Schindeln zu
richten, die Wände zu erneuern, wo der Putz heruntergefallen
war. Niemand ersetzte gar die zerbrochenen Scheiben, die der Wind
eingedrückt oder spielende Kinder schon vor Jahren eingeworfen
hatten. Das Haus stand an einem besonderen Ort! Seine Erbauer waren
dereinst noch im Bilde über die verborgenen Kräfte der
Natur gewesen, und deshalb war es ein Hort der Ruhe und des Friedens.
Nie war unter den Bewohnern Blut geflossen ... außer natürlich,
wenn sich einer der Köche mal geschnitten hatte oder aber draußen
im Hof Federvieh und anderes Getier geschlachtet wurde, um den Reisenden
nahrhafte Gerichte zu liefern.
Ja, in den vielen
hunderten von Jahren hatte das Gasthaus viele Bewohner kommen und
gehen sehen. Solche die länger blieben, sich um das Haus sorgten
und den Reisenden Unterkunft, Speise und Trank boten und anderen,
die schlicht Rast auf ihrem Weg suchten. Doch es war lange her,
dass ein Mensch dieses Haus betreten hatte oder auch nur die Straße
entlang gewandert oder gefahren war. Die Natur hatte ihr Recht eingefordert
und den nun nicht mehr benutzen, asphaltierten Weg wieder zurück
erobert. Das Werk der Menschen war noch nicht gänzlich verschwunden,
aber in seiner Breite bereits deutlich geschrumpft und an vielen
Stellen durch Wurzelwerk und neue Pflanzen aufgebrochen. Kein Auto
würde hier so ohne weiteres mehr entlang fahren können.
Die Bewohner des
Hauses waren in diesen Tagen viele verschiedene Tiere. Eine ganze
Familie von Schleiereulen war im Dachboden eingezogen. Da die Familie
beständig gewachsen war, hatten sie es sich auch in einem der
Gästezimmer bequem gemacht. Die Scheibe nach draußen
war zerbrochen, so dass sie ungehinderten Zugang hatten. Unten wohnte
eine Großfamilie Mäuse, Ratten und mehrer Katzen, die
ihren Lebensabend hier beschließen wollten. Selbst eine Fuchsfamilie
und Nattern des Waldes waren hier eingezogen. Und, als sei es ein
nicht ausgesprochenes Gesetz, jagte im Hause niemand den anderen,
wenn man sich auch meist aus dem Wege ging. Generation über
Generation wohnten die Familien hier in Eintracht, vergessen von
den Menschen. Nur dann und wann war früher einmal ein Wandersmann
vorbeigekommen, der neugierig in das langsam zerfallende Haus gespäht
oder es einfach nur im Vorbeigehen mit einem kurzen Blick bedacht
hatte. Aber selbst diese seltenen Besuche waren irgendwann ausgeblieben
und es herrschte Ruhe und Frieden, selbst in den kleinen Wäldchen
und Wiesen ringsum.
Eines schönen
Tages jedoch war ein betagter Uhu in eines der Zimmer eingezogen,
hatte sich höflich vorgestellt, und darum gebeten, ebenfalls
den Rest seiner Tage hier verbringen zu dürfen. Die Eulen waren
höchst interessiert an der alten Gestalt und schickten ihre
Jungen zu ihr in die Ausbildung, denn er war eine der wenigen Eulenvögel,
die Kenntnisse in Menschenkunde besaßen. Ein Wissen, dass
durchaus hilfreich sein konnte, wie selbst der Fuchs in einem seiner
langen Gespräche mit dem auf einem zerzausten Bett hockenden
Uhu deutlich machte. In diesen Tagen schlief der alte Uhu allerdings
meist oder döste einfach vor sich hin, während ihn die
Eulen großzügig mit Nahrung versorgten, da er seine müden
Knochen nicht mehr zum Fliegen erheben konnte.
Vor geraumer Zeit
bemerkten die Tiere hin und wieder leichte Erschütterungen
im Boden, kaum wahrnehmbar zwar, aber dennoch unnatürlich und
bedrohlich. Sie versuchten es zu ignorieren, aber schon bald mussten
sie feststellen, dass das Zittern und Vibrieren im Boden immer stärker
wurde, und mitunter das Haus so stark erschütterte, dass Putz
von der Decke rieselte, oder noch intakte Scheiben zersprangen.
Dann öffnete der alte Uhu seine Augen einen Spalt, stierte
durch das Fenster nach draußen und erblickte in der nächtlichen
Ferne das unnatürlich Licht, welches nur Menschen nutzten,
um in der Dunkelheit sehen zu können.
"Bald",
murmelte er dann vor sich hin. "Bald ist es so weit."
Andere Tiere waren
schon lange vor der heranrückenden, von Menschenhand geschaffenen
Monstrosität geflohen, die sich ohne Unterlass, Tag und Nacht,
durch den Boden fräste. Mächtige Schaufeln gruben sich
tief in das Erdreich, brachten die Umgebung zum Erbeben und die
Natur schrie vor Schmerz auf, wenn Baum und Strauch und Getier,
das nicht in der Lage war zu flüchten, erfasst und zerrissen
wurde. Dies alles landete auf einem Förderband, das die so
geschundene Natur hinwegbeförderte, siebte und dann achtlos
an anderer Stelle wieder aufschüttete. Die gewaltige Maschine,
neben der selbst ein Mensch winzig wirkte, war nicht allein. Gemeinsam
mit drei anderen hoben sie in ununterbrochender Arbeit Abgründe
aus. Gewaltige Gruben im Erdreich, die sie dann auch wieder auffüllten;
sehr zum Unverständnis der Tiere.
"Sie machen
selbst vor ihresgleichen nicht halt", hatte Rahuu, der alte
Uhu den anderen Hausbewohnern einst mitgeteilt. "Ich habe es
selbst gesehen, wie sie mit diesen Maschinen ihre eigenen Städte
niedergerissen haben."
"Mit den
Bewohnern darin?", fragten damals die jungen Schleiereulen
und rissen ihre großen Augen voller Erstaunen weit auf.
"Natürlich
nicht!", hatte Rahuu dann nach einer kurzen und gehaltvollen
Pause voller Spannung hinzugefügt. "Sie sind vorher weggezogen.
Und so wird es auch hier sein ..." Dann wurde er immer sehr
nachdenklich und war tagelang nicht ansprechbar, grübelte,
wie es denen schien, die ihm Nahrung brachten.
Die Nachricht
war den Tieren natürlich nicht neu. Sie wussten schon lange,
dass sie hier nicht bleiben konnten, und doch wollten sie das alte
Rasthaus und die Ruhe und den Frieden nicht missen, die gastliche
Heimstatt, in der Generationen groß geworden waren, nicht
verlassen. Doch war klar, dass sie sich den Klauen des Baggers nicht
würden wiedersetzen können.
Eines Nachts,
die Erschütterungen des Bodens waren inzwischen sehr heftig
geworden, hatten sie sich zu einer Besprechung in dem Zimmer des
alten Uhus versammelt. Die Schaufel des Baggers war in seiner beständigen
Bewegung in einem Viertelkreis bereits sehr nah am Haus vorbeigezogen
und sie erwarteten sie auch bald wieder zurück. Dies würde
ihre letzte Nacht hier sein, auf die eine oder die andere Art, denn
schon näherten sich die Scheinwerfer wieder und ein gleichmäßiges
Zittern durchlief, Unheil verkündend, den Boden. Schon bald
würde es einen Ort der Ruhe und des Friedens weniger geben.
"Es wird
Zeit", meinte der Fuchs und warf mit Sorge einen Blick auf
seine zwei Jungen und blickte dann, nicht minder betrübt, in
die Runde. Schweigendes Kopfnicken hier und betretenes Schweigen
herrschte, bis Rahuu sein rechtes Auge für einen Moment öffnete,
in die Runde blickte und - sehr zum Erstaunen der Versammelten -
lautstark "Nein!" krächzte. Dann schloss er das Auge
wieder und hinterließ die Versammlung ratlos.
"Rahuu ...",
begann ein Kauz, kam aber nicht weiter, denn mit einem Male durchflutete
gleißendes Licht den Raum und alle riefen durcheinander und
stolperten übereinander, da sie geblendet waren. Ein gewaltiges
Beben durchfuhr das Haus, ließ die alten Balken ächzen
und überall stürzten Möbel durcheinander. Ein Donnerschlag
wie bei einem gewaltigen Gewitter folgte dem Licht und ließ
selbst die Luft vibrieren.
"Das ist
das Ende!", piepsten die Mäuse voller Entsetzen.
"Rettet euch!",
bellte der Fuchs und griff mit den Fängen eines seiner Jungen
und hoffte, seine Frau würde es ihm gleichtun.
"Zu spät!",
miaute gedehnt eine der Katzen und ergab sich in das vermeintliche
Schicksal, da sie zu alt und schwach war, um zu entkommen.
Und während
noch alle durcheinander riefen und -liefen, zuckte ein greller Blitz
vom Himmel, versetzte die Tiere in noch größere Panik
und die Explosion eines Einschlags schien das Rasthaus zu zerreißen.
Dann war da Dunkelheit ... Ruhe.
Fahles Licht erhellte die Oberfläche eines kleinen Sees, Wind
säuselte sanft in den Blättern der Bäume und die
frische, sommerliche Brise drang ins Haus.
Nachdem sich die
Aufregung gelegt hatte, standen die Hausbewohner verdutzt am offenen
Fenster und bestaunten die fremdartige Umgebung.
"Seht doch!"
rief eine der Eulen und blickte zum Himmel, wo ein recht großer
und ein sehr viel kleinerer, dunkler Mond ihre Bahn zogen.
"Unglaublich
...", murmelte der Fuchs und drehte sich um. Dort lag Rahuu
ausgestreckt auf dem Bett und auch drei Eulen hatten sich bereits
um den offensichtlich toten Uhu versammelt.
"Er wird
an dem Schreck gestorben sein", meinte die älteste Katze
und nickte wissend. "Mir wäre es beinahe auch so ergangen."
Der Fuchs schnüffelte
an dem Uhu, betrachtete ihn genauer und schüttelte dann energisch
den Kopf. "Nein", sagte er leise. "Dieser Uhu ist
nicht gestorben, weil er sich erschreckt hat. Seht doch, wie friedlich
sein Gesicht aussieht."
Er setzte sich
an den Rand der Matratze, die mitsamt dem Uhu vom Bett geworfen
worden war. Alle Hausbewohner hatten sich, wie es Brauch war, um
den Verstorbenen versammelt, um zu trauern.
"Dann ist
es also wahr ..." Der Fuchs holte tief Luft und nahm die erstaunten
und fragenden Blicke der anderen Tiere gar nicht wahr. "Es
wird gesagt, dass ein wirklich weiser Uhu einmal in seinem Leben
ein Wunder wirken kann."
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(c) 24. September 2004 - Thomas Klaus
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