DAS GEHEIMNIS
 

 

 

 

"Heute Nacht ist es soweit!" brüllte der Anführer wild und führte einen Veitstanz auf, dem seine Anhänger bewundernd zusahen. "Dies ist die Nacht!" intonierte er, ohne Ermüdung erkennen zu lassen. Die Trommeln dröhnten im aufkommenden Blutrausch. Die versammelten Menschen, Halbmenschen, Halborks und andere skurrile Gestalten, deren Blut sich durch mehrere Rassen vermischt zu haben schien, schrieen infernalisch und tanzten im Rhythmus der Trommeln um ein großes Lagerfeuer inmitten des verlotterten Dorfes.
Der Kriegstanz störte selbst die Geistwesen kurz auf. Aber so wichtig waren die materiellen Ebenen nicht, dass sie sich näher damit beschäftigt hätten. Jedenfalls bis auf einige wenige ...

*

"Sie werden kommen", seufzte der Elf. "Es geschieht in dieser Nacht! Sie werden kommen!"
"Kyal sagt, dass sie sich nicht trauen", erwiderte der Jüngere voller Zuversicht. Andronar sah seinen Begleiter schweigend an, bevor er erneut seufzte.
"Was sollen sie fürchten? Was sollte sie abhalten?" Andronar schüttelte traurig den Kopf. "Sie wissen genau, dass sie uns überlegen sind. Und ich bin mir fast sicher, dass sie am Tod unseres Magiers nicht unschuldig sind. Wie sollen wir sie nur davon abbringen, das Dorf anzugreifen?" Er war so verzweifelt, wie Fhynor seinen Anführer noch nie erlebt hatte.
Die Sache war diesmal ernster, als es zunächst den Anschein hatte.

*

Seit ewigen Zeiten siedelte der kleine Elfenstamm in dem schmalen Tal und hatte sich wenig um das Drumherum gekümmert. Oh, sie hatten die Menschen und Mischlinge genau beobachtet, die im benachbarten Tal beheimatet waren und sie hatten bemerkt, dass sie extensiver dachten, als es für die Elfen gut sein konnte. Am Anfang hatten sie sich gelegentlich behakt, ohne jedoch zu töten. Meist reichten beiden Seiten Schmähungen und Beleidigungen aus, von gelegentlichen Demontagen der Jagdfallen abgesehen. Schließlich waren sie übereingekommen, dass das kleine Tal den Elfen vorbehalten bleiben sollte. Es war völlig müßig zu diskutieren, dass die Elfen keinerlei Expansionsgelüste hegten. Jedenfalls für die Elfen ...
Später hatten auch die Siedler im Nachbartal eingesehen, dass sie von den fortschrittlichen Techniken der Land- und Forstwirtschaft der Elfen profitieren konnten. Und so gab es ein andeutungsweise erfreuliches Miteinander. Für einige mehr, für andere allerdings weniger. Alter Argwohn blieb jedoch erhalten und in Zeiten von Missernten und anderen Unregelmäßigkeiten wurde er durch neidische Zeitgenossen geschürt.

*

Die Menschen hatten sich in der kargen Gegend ohnehin immer als Außenseiter gefühlt. Sie kamen weder mit den kurzen Sommern, den extensiven Wintern, plötzlichen Kälteeinbrüchen und auch den Blizzards klar. Es waren nicht die Siedler, die sich der Umwelt einfach bedienen konnten. Die Natur herrschte in Ghy'Nur Fghar! Niemals hatte sich jemand die Mühe gemacht, die Elfen zu fragen, was die Worte bedeuten ...

Die Natur, verehrt durch die Elfen. Geachtet und geschätzt! Die Elfen wurden zu den Geistern der Welt, denjenigen, welche die Naturgewalten beherrschen konnten. Immerhin waren solche unter ihnen, die mit den geringen magischen Strömungen umgehen konnten, wie es kein Mensch vermochte!
Neid kam auf. Und Neid zieht Hass nach sich! Gefühle, die den freundlichen und eigentlich sehr hilfsbereiten Elfen fremd waren. Sie lernten gerne dazu. Und sie lehrten gerne; jedenfalls wenn sie gefragt wurden.

*

"Es sind böse Geister!" schrie der Anführer wieder und wieder. "Sie gönnen uns nicht den Boden auf dem wir stehen, obwohl wir ihnen überlegen sind. Sie fordern unsere Stärke heraus!"
"Ja!" blökte die Menge und bewegte sich weiter im Rausch der Trommeln, die sich langsam in ein Inferno steigerten. Drogen und Alkohol taten ihr Übriges, um die Meinungen gleichzuschalten.

*

"Diese Nacht", meinte die eine verborgene Gestalt zur anderen. "Es wird diese Nacht geschehen."
"Und?" kam es lakonisch und leidenschaftslos. Der Sprecher gähnte gelangweilt.
"Sie können sich nicht wehren. Der alte Magier ist tot und es sind nur dreiundzwanzig Kämpfer. Die restlichen ... " Die Gestalt hob den Kopf und spähte über den Felsen am Rande einer immensen Höhle. "Da kommen sie. Wir könnten helfen, wenn ..."
"Was!" brüllte der Andere und hielt sich augenblicklich die Hand vor den Mund, da sein Entrüstungsschrei sicher in der ganzen Umgebung deutlich zu hören gewesen sein musste.
"... wenn wir uns beeilen", beendete der erste Sprecher den begonnen Satz ungerührt. "Alarmiere den D'ynast."
"Das werde ich nicht, Yadîr! Du bist wohl vollkommen durchgedreht, den verdrehten Elfen helfen zu wollen."
"Fass dir mal an deine eigenen spitzen Ohren, Zzyryn!" schimpfte der ältere Yadîr und schnappte sich den jüngeren Dunkelelfen um ihn kräftig durchzuschütteln. "Wann kapiert ihr denn endlich, was hier los ist? Wenn es im nächsten Frühjahr kein Obst und kein Gemüse mehr gibt, dass wir von den Elfen hier oben bekommen haben? Denkst du Idiot immer noch, dass irgendeine spinnerte Gottheit uns das Obst an Felswänden gedeihen lässt?" Yadîr schüttelte den Kopf, ließ aber nicht von dem Jüngeren ab, der seinen Begleiter ängstlich ansah. Nicht umsonst hatten sie gesagt, dass Yadîr ein wenig verrückt war. Aber das es so schlimm war ...
"Du ...", begann Zzyryn zaghaft und ergriff die Arme des älteren Dunkelelfen. Aber Yadîr löste seinen Griff nicht, sondern stand den Jüngeren ebenfalls hochziehend aus der Deckung hinter dem Felsen auf.
Es passierte rein gar nichts!
'Noch nicht', dachte sich der Jüngere und schluckte schwer, denn sie boten für jedes Wesen, das auch nur andeutungsweise im Dunkel sehen konnte ein ausgezeichnetes Ziel. Langsam, sehr langsam versuchte Zzyryn wieder in Deckung zu gehen und zog den Älteren mit hinunter.
"Sieh mal, Yadîr", Zzyryn wählte seine Worte sehr vorsichtig, denn er wollte keinen weiteren Wutausbruch riskieren, "selbst wenn wir ihnen helfen wollten, gäbe es einige Probleme."
"Welche?" verlangte Yadîr giftig zu wissen. "Du verschwendest Zeit, die wir nicht haben!" Zzyryn drehte und wand sich hin und her, bis er endlich dem Griff des anderen Dunkelelfen entkommen war.
"Sie können uns nicht ausstehen und ..."
"Wer sagt das?"
"Na, jedenfalls kann ich die Elfen nicht leiden und ..."
"Kennst du welche?"
"Tayd!" Zzyryn ruderte hilflos mit den Armen. "Was denkst du wird passieren, wenn ich dem D'ynast den Grund für den Alarm nenne?"
"Er wird entweder vor Wut platzen oder dich auf der Stelle erschlagen. Wenn du sehr viel Glück hast, ist Doron im Dienst. Schlimmstenfalls wird er dich einfach übersehen." Yadîr lächelte den Jüngeren nachsichtig an. "Du wirst ihm den Grund eben nicht sagen, Zzyryn. Wenn die Gruppe erst einmal hier ist, werde ich schon dafür sorgen, dass sie uns folgen."
"Uns?!" Zzyryn n schien es, als würde sich ein Loch in der Dunkelheit öffnen und das Tageslicht hereinlassen! "Ich will damit nichts zu tun haben. Du bist vollkommen verrückt, wenn du denkst, ich würde auch nur einen Schritt in dieses Tal machen!" Demonstrativ hockte er sich hin und verschränkte die Arme vor der Brust. Yadîr stand seufzend auf und schien nachzugeben. Langsam drehte er sich herum, sah im Westen die mit Fackeln ausgestatteten Menschen und Halblinge, andere Wesen und auch verschiedene Reittiere, welche sich auf dem Weg nach Ghy'Nur Fghar befanden. Aus ihrer Anwesenheit und ihrem Vorhaben machten sie keinen Hehl!
"Magst du Obstkuchen?" fragte Yadîr seinen Begleiter plötzlich und blickte immer noch in die Ferne. Der Gesichtsausdruck des jungen Dunkelelfen wirkte alles andere als intelligent!

*

Andronar war hin und her gerissen. Er hatte die Dunkelelfen auf der niedrigen Hügelkette am Fuße der Berge bemerkt. Eigentlich benahmen sie sich alles andere als normal, denn selbst der wesentlich jüngere Fhynor warf ab und zu einen verstohlenen Blick in diese Richtung.
"Meinst du", fragte Fhynor schließlich und lehnte sich bedrohlich weit auf dem Ast zu Andronar hinüber, dass dieser ihm Zeichen machte, ruhig laut zu reden und keinen Absturz zu riskieren, "die K'yanard sind mit denen aus dem Dorf im Bunde?"
"Dunkelelfen und dieser Pöbel?" fast hätte Andronar laut gelacht. "Junge, du hast keine Ahnung, wie die wirklich sind! Sie sind uns nicht fremder, als uns der Fels ist, den sie formen und bewohnen. Wir haben uns nur nie damit beschäftigt, wie sie sich nicht mit den Bäumen und Pflanzen beschäftigen. Aber wir sind verwandt. Das ist sicher"
Die Luft wurde kühler und ein leichter Nebel waberte über den Boden des kleinen Tales, während sich Fhynor wieder zurücklehnte und über die Worte Andronars nachdachte. In der Ferne erscholl jetzt auch für die Ohren eines normalern Sterblichen das Gejohle der Angreifer. Ein leichte Brise zerfetzte Singsang und Geschrei und setzte es, geisterhaft von den Felsen zurückgeworfen, wieder zu einer sirenenartigen und einlullenden Tirade zusammen.
"Dann sollten sie uns helfen", stellte Fhynor nach einer ganzen Weile sachlich fest. Andronar wäre vor Schreck fast von seinem Ast gefallen und starrte den Jüngeren an, als hätte dieser gerade verkündet, dass am kommenden Morgen die Sonne wieder aufgehen würde.
"Bei allen Welten, Fhynor!" rief er hocherfreut, schwang sich vorsichtig hinab und landete behände auf dem moosigen Waldboden. Die leichten Nebelschwaden wirbelten wild um ihn herum und im fahlen Licht sah Andronar eher wie ein Geist, als ein Elf aus Fleisch und Blut aus. "Bei allen Welten, Junge. Ja, das sollten sie! Ruf den Rat zusammen. Und auch die Wachen!"
"Wo willst du denn hin?" Fhynor war sichtlich irritiert und landete weniger sanft auf dem Boden direkt hinter seinem Anführer.
"Geh zum Dorf, Junge. Rufe den Rat und die Wachen", Andronar marschierte ein paar Schritte und drehte sich wieder herum. In seinen Augen spiegelte sich ein Glanz, den Fhynor dort noch nie zuvor gesehen hatte. Da war keine Bekümmertheit mehr, sondern ein Lodern, welches der Jüngere weder begründen noch einordnen konnte. "Geh jetzt endlich! Ich hole unsere dunklen Brüder und Schwestern!"
Dann war er verschwunden, als hätte er sich ebenfalls in Nebel verwandelt, um schweigend in der Nachtluft zu schweben.

Bis Fhynor den vollen Umfang dieser Wort begriffen hatte, war Andronar schon längst unterhalb der Felsen, wo die Elfen der Tiefe ihre Beobachtungsposten unterhielten.
"Großartig", murmelte Fhynor. "Unheimlich toll! Die anderen werden denken, dass ich verrückt geworden bin ..." Er machte sich im Laufschritt auf den Weg ins Dorf und überlegte dabei angestrengt, wie er es den Anderen möglichst schonend beibringen sollte.

*

Der D'ynast ist der Hüter der äußersten Tore. Eine recht verantwortungsvolle Aufgabe einerseits, da auf der Ebene der Zugänge zu den schier endlosen Gängen der Unterwelt der komplette Waren- und Personenaustausch stattfand. Personenaustausch beschränkte sich bei den Dunkelelfen jedoch darauf, die Außenwachen auszutauschen. Besucher gab es keine. Jedenfalls keine, die eingeladen worden waren!
Doron räkelte sich auf einer Art Stuhl, der aus der Außenwelt kam und sich bei jeder Bewegung anpasste. Ein Utensil, welches von den Elfen im Tal stammte und dann mit der Magie der Tiefe ausgestattet worden war. Aber darüber zerbrach der D'ynast sich nicht den Kopf. Ihm ging lediglich das permanente Umhergehlaufe auf dem Gang auf die Nerven, bis er endlich aufstand, eine kleine magische Kugel aktivierte, die ein mildes Licht spendete, um ihn nicht zu blenden.
Doron mochte dieses kleine Büro, welches in jede Richtung kaum fünfzehn lange Schritte maß. Die Wände waren von den besonders begabten Felsformern geglättet worden, die Elfen aus dem Tal hatten einige Zeichnungen angebracht, der Boden war mit einem Teppich ausgelegt, dessen wunderschöne Farbmuster in der ewigen Düsternis der Tiefe selbstverständlich nicht zur Geltung kamen. Nur im milchigen Licht der magischen Kugel konnte ein Betrachter erahnen, welche Regenbogen und Einhörner, andere Schönheiten und Naturspektakel das Muster des dichten Gewebes bildeten.
Doron hatte oft die Muster studiert und dabei das Licht heller werden lassen, als es seinen Augen gut tat. Es waren schöne Dinge dort zu sehen, Dinge, die es in der Tiefe nicht gab! Er seufzte und blieb versonnen auf dem weichen Untergrund stehen. Er sah sich wieder einmal den Regenbogen an, von dem er nicht einmal wusste, was es genau sein sollte ... Sein Müßiggang wurde jäh unterbrochen, als Trygn den ledernen Vorhang beiseite fegte und den Raum betrat.
Dorons ganzer Missfallen drückte sich in seinem Gesicht aus, als er den Jungen musterte und dabei seine schmutzigen Stiefel entdeckte.
"Der ...", begann Trygn seine Meldung und zeigte über die Schulter.
"Mach dich hier raus!" raunte Doron. Trygn hatte nicht zum erstenmal Dienst unter dem alten Dunkelelfen und wusste nur zu gut, was dieser Tonfall zu bedeuten hatte. Er war hin und her gerissen, endlich zu melden, dass die Alarmwache dabei war anzutreten und eine Flucht nach hinten aus dem merkwürdigen Raum anzutreten.
"Ich komme gleich", maulte Doron und Trygn nickte verständnisvoll, als er entdeckte, dass der D'ynast nicht einmal Stiefel anhatte. Beim Rausgehen warf er schnell noch einen Blick auf den bunten Teppich und wischte sich dann Tränen aus den Augenwinkeln. Das Licht der magischen Kugel war viel zu hell gewesen!

"Was, bei allen Basilisken, ist hier los?" wetterte Doron, als er wenige Minuten später in der Versammlungshalle die komplette Wache versammelt sah.
Der Gardeführer kommandierte vier Abteilungsführer, denen wiederum jeweils vier Gruppenführer unterstellt waren. Zu dem jeweiligen Gruppenführer gesellten sich jeweils acht gut ausgebildete wenn auch recht junge Dunkelelfen und -elfinnen. Die anwesenden einhundertneunundvierzig Kämpfer und Kämpferinnen gehörten mit zu den Besten, denn in früheren Tagen waren die Zugänge oftmals schwer umkämpft gewesen.
Die Frage des Wachführers konnte hier allerdings niemand beantworten und so wurde auch nicht in besonderer Formation in der Halle gewartet. Spielereien wie unsinniges Antreten oder feste Formationen waren nicht nur Doron ein Dorn im Auge, sondern auch unter den Dunkelelfen grundsätzlich verhasst. Sie bewegten sich schneller, lautloser und erheblich effektiver in kleinen Gruppen!
"Es geschah auf Weisung von Yadîr, den Zzyryn schickte", bemerkte einer der Abteilungsführer und blickte suchend durch die Menge, um den jungen Dunkelelfen auszumachen. Der hatte aber die Gelegenheit beim Schopfe gepackt und sich erst einmal in den Speiseraum verkrümelt, um einen kleinen Imbiss zu nehmen.
Zzyryn erreichte die Halle, hatte nicht erwartet, wie schnell die Alarmgarde aufgestellt worden war und lief fast in Doron hinein, dessen Laune sich nicht unbedingt verbessert hatte. Er liebte es gar nicht, wenn er nicht über die Vorgänge aufgeklärt wurde, für die er eigentlich zuständig und verantwortlich war.
Zzyryn schluckte schnell noch den letzten Bissen des Gewürzbrotes herunter und blieb vor seinem Vorgesetzten stehen, der ihn zuerst mit grimmiger Mine, doch dann nachdenklich musterte.
"Also gut!" rief Zzyryn, während er sich der Versammlung zuwandte und den D'ynast ebenso beachtete, als wäre er ein Stein in der Felsenhalle. "Wir werden angegriffen und so weit wir es beurteilen können, sind es diese verrückten Mischlinge und das Gesindel aus dem Nachbartal. Mir nach! Ich zeig euch den Weg!" Daraufhin sprang er einige Stufen hinunter und fuchtelte wild mit den Armen, während sich die ersten Soldaten bereits auf den Weg machten. Schulterzuckend setzten sich auch die Gruppenführer und ein Abteilungsführer in Marsch, während Doron langsam die Farben seines geliebten Regenbogens durchs Gesicht wanderten.
"Also ...", begann er und stand ziemlich hilflos auf dem Sockel. Dann hieb er Ruzzynd, dem Gardeführer, heftig ins Kreuz.
"Was ist, alter Freund? Willst du die Garde Zzyryn oder Yadîr überlassen?"
"Die können doch nicht machen, was sie wollen ... Ich meine ...", Ruzzynd sah Doron mit aufgerissen Augen und fragendem Blick an.
"Tja, mein Freund", entgegnete Doron freundlich, "die Jugend ist auch nicht mehr das, was sie mal war. Und verschone mich jetzt damit, mir zu sagen, dass das damals nicht passiert wäre! Ich könnte mich dann nämlich versehentlich an einige sehr fragwürdige Geschichten erinnern ... Geh jetzt, ich komme mit der Reserve nach, sobald ich Nachricht gegeben habe."
"Ich an deiner Stelle würde keine Nachricht geben, wenn wir nicht sicher sein können, ob dieser Angriff überhaupt stattfindet", gab der Gardeführer zu bedenken. "Was denkst du wird passieren, wenn sie noch mehr Leute schicken und hier nichts weiteres als ein Gelage im Gange ist?"
"Nun", Doron schmunzelte, "Es ist auf jeden Fall Yadîrs und Zzyryns Feier. Nicht meine!"
"Eh ... aber ..."
"Und außerdem wäre es immerhin denkbar, dass wir wirklich angegriffen werden. Und was denkst du, werden sie mit uns machen, wenn irgendjemand hier eindringt? Im Zweifelsfall ließe sich der Ausflug immer noch als Übung ausgeben. Aber jetzt werden wir erst einmal nachsehen, um was es wirklich geht."
Die zwei Dunkelelfen marschierten in unterschiedliche Richtungen davon, während Ruzzynd verzweifelt seine Abteilungen einzuholen versuchte.

*

Andronar schlich sehr vorsichtig, denn er wollte die dunklen Verwandten nicht erschrecken. Zuerst wollte er in Erfahrung bringen, wo sie sich in dieser Nacht niedergelassen hatten, bevor er sich zu voller Größe aufrichtete. Die Sucherei erübrigte sich, als Yadîr plötzlich vor ihm stand, als wäre er gerade aus dem Fels entstanden und hätte sich materialisiert.
Andronar hatte zwar schon mit verschiedenen Dunkelelfen zu tun gehabt, aber es lief ihm immer noch ein Schauder nach dem anderen über den Rücken, wenn er einem gegenüber stand. Außerdem war dieser hier von den Wachen. Und die Dunkelelfen ließen noch lange nicht jeden hier draußen herumspazieren!
"Und?" kam es tonlos und in gebrochenem Akzent von Yadîr, der den verstörten Elfen musterte.
"Ich ...", Andronar war total verkrampft und fragte sich, was er eigentlich fürchtete. Die Dunkelelfen hatten niemals das Dorf angegriffen oder sich an einzelnen Elfen vergriffen. Jedenfalls nicht in dieser Gegend!
"Hör auf zu zittern, Elf", setzte Yadîr nach und lehnte sich lässig an einen Felsen, hob aber gleich darauf den Kopf und lauschte dem Geschrei und Lärm, welches von den heranmarschierenden Angreifer herüber drang.
"Sie kommen wegen uns", Andronar schluckte schwer. "Bitte helft uns." Die Blicke der so unterschiedlichen Elfen verschmolzen ineinander und so standen sie lange unbeweglich, bis Zzyryn sie unterbrach.
Die Ankunft des jungen Dunkelelfen versetzte Andronar einen weiteren Schreck, denn obwohl der Junge abgehetzt aussah, hatte er ihn nicht kommen gehört. Zzyryns wenig begeisterter Blick fiel auf Andronar, den er aber dann ignorierte und mit Yadîr direkt in der Sprache der Dunkelelfen sprach.
"Sie kommen, Yadîr. Die komplette Garde. Und ich rate dir gut, dir ganz schnell etwas auszudenken, denn Ruzzynd und Doron kommen selbst!"
"Tayd!" murmelte Yadîr und benutzte damit ein Wort, welches alle Elfen gleichermaßen als Fluch benutzten. Andronar sah den älteren Dunkelelfen fragend an.
"Hör mir gut zu, Elf, denn ich werde es nur einmal sagen!" Yadîr ergriff Andronar am Arm. "Wir werden helfen. Dieses eine Mal werden wir helfen. Und danach werdet ihr mir helfen, denn ich werde einen fürchterlichen Ärger bekommen, wenn die Angelegenheit erledigt ist." Andronar war extrem überrascht und nickte nur kurz.
Zzyryn hatte unterdessen kein Wort verstanden, denn niemand hatte ihn die Sprache der an der Oberfläche lebenden Elfen gelehrt. Weniger neugierig, als argwöhnisch sah er den Waldelfen an und sagte kein Wort. Wusste Yadîr etwas, was Zzyryn nicht wusste? Kannte er diesen Elfen?

Die Alarmeinheit der Dunkelelfen erreichte ein kleines Plateau oberhalb des von Waldelfen besiedelten Tales gut zwei Stunden vor den Angreifern, die noch immer laut lärmend über den Hauptweg marschierten und sich ihrer Sache ziemlich sicher waren.
Doron stellte Yadîr zur Rede und traute zunächst seinen spitzen Ohren nicht, bis er begriff, dass mit den Angreifern auch der Ärger in diese Gegend kommen würde und die Ruhe an den äußeren Toren ein Ende haben würde.
Andronar, umgeben von über einhundertundfünfzig Dunkelelfen und -elfinnen, fühlte sich recht unwohl und verstand kein Wort. Die Krieger schenkten ihm keine Beachtung, gelegentlich streifte ein amüsierter und neugieriger Blick einer Dunkelelfe den Waldelfen und Andronar sah schnell fort, um keinen Ärger zu provozieren.
Wenig später hatten Doron und Ruzzynd die Grüppchen eingeteilt und der D'ynast trat zu dem Waldelfen. Wenig begeistert sah er ihn zunächst eine Zeit lang an, bevor er sich in der gemeinsamen Sprache an ihn wendete.
"Wissen deine Leute das wir hier sind? Ich lege keinen Wert darauf, unnötigen Ärger herauszufordern."
"Ich habe Fhynor ins Dorf geschickt, um ..."
"Du warst sicher, dass wir kommen würden?" Ruzzynd traute seinen Ohren nicht.
"Nein, nein!" versicherte Andronar schnell. "Aber ich habe so sehr darauf gehofft ... Ehrlich gesagt, kann ich unser Glück kaum fassen! Wir werden auf ewig in eurer Schuld stehen!"
"Noch haben wir nicht gewonnen", setzte Doron lakonisch hinzu. "Immerhin scheint es sich um eine Menge Verrückter zu handeln, die euch ans Fell wollen."

*

Die betrunkenen und johlenden Angreifer wankten über den Hauptweg, andere schlugen sich durch das Gebüsch. Es war kein geordnetes Vorgehen zu erkennen, denn immerhin handelte es sich nicht um eine reguläre Truppe, sondern um ein Gemisch von völlig abgerissenen und verwahrlosten Gestalten, die auf der Suche nach den Sündenböcken für ihre eigene Misere waren.
"Essinnnurnochnpaa'", lallte einer der Wortführer und wankte bedenklich. Mit einigen kreisenden Bewegungen um seine eigene Achse und dem Herumfuchteln seines Schwertes glich er das Kreisen in seinem Hirn einigermaßen aus, erlangte das Gleichgewicht zurück und stieß einen Rülpser aus, der die anderen Umstehenden kurzfristig zur Ruhe brachte. Erstaunt blickten sie den sturztrunkenen Menschen an und erwarteten wohl irgendetwas. Der so in den Mittelpunkt Gerückte starrte zurück, konnte nichts außer einem ständigen Schluckauf erwidern und setzte sich kopfschüttelnd wieder in Bewegung. Die Menge wich aus und ein Halbork stellte ihm ein Bein, worauf der selbsternannte Anführer laut schreiend zu Boden ging, von wo er nicht mehr aufstand.
Der Schlaf der Trunkenheit hatte ihn übermannt, was ihm letztlich allerdings auch nicht helfen sollte.

Je näher die gut dreihundert Gestalten an das Tal herankamen, um so ruhiger wurden sie. Eine bemerkenswerte Nüchternheit machte sich breit und so gingen sie etwas vorsichtiger zu Werke, denn auch wenn es nur noch wenige Verteidiger waren, wussten doch alle, dass die Elfen das Tal nicht kampflos aufgeben würden.
"Halt!" rief plötzlich ein älterer Schamane, der bereits in der Nacht den Hass geschürt hatte, und fast augenblicklich kam die ganze Meute zum Stehen. Der Mann murmelte etwas und so konnte er von allen gehört werden, selbst wenn sie weiter hinten oder in den umgebenden Büschen standen.
"Wir warten noch, bis die Dämmerung hereinbricht. Es wäre ja möglich, dass sie Hilfe bekommen." Er grinste unverschämt und stimmte dann einen Gesang an, in den die Wohltäter an sich selbst johlend einfielen.

Unweit dieser Stelle verzog eine Dunkelelfe angewidert das Gesicht, kroch vorsichtig näher an drei unvorsichtige und betrunkene Menschen, die sie sehr schnell vom Leben zum Tod beförderte. Zwar hatte sie nur den Auftrag, die Anführer der Horde auszuspähen, die günstige Gelegenheit ließ sie sich dann allerdings doch nicht nehmen.
Nur wenig später erstatte sie Ruzzynd Bericht und Doron verteilte seine Leute in entsprechende Positionen. Bei den Dunkelelfen gab es dann aber doch einiges Gemurre, da der Sonnenaufgang bevorstand. Und für Dunkelelfen gab es nichts widerlicheres als das helle Licht des Tages.
"Wir müssen sie zuerst angreifen", meinte Ruzzynd schließlich frustriert. "Oder wir müssen in Kauf nehmen, durch das Tageslicht erheblich im Nachteil zu sein."
"Nein!" Doron blickte nachdenklich drein. "Genau darum geht es doch. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie alle betrunken sind. Sicher handelt es sich nur um eine List. Sie sind eigentlich recht gut bewaffnet und zumindest die Anführer scheinen dies alles schon seit längerer Zeitgut durchdacht zu haben. Warten wir ab und lassen uns nicht blicken, so werden sie denken, dass wir gar nicht erst aus dem Berg hervorgekommen sind."
"Du riskierst viel, Doron", meinte Ruzzynd schließlich und machte sich ebenfalls auf den Weg, um sich eine günstige Position zu suchen.
'Nicht halb so viel, wie du denkst, Ruzzynd', dachte er bei sich. 'Nein, nicht einmal halb so viel!' Dann drehte er sich herum und besprach sich mit einem der Waldelfen, der ihn ängstlich ansah und erst nach einigen Minuten wirklich Vertrauen fasste. Kurz darauf sandte er einen Boten mit einer eiligen Nachricht zurück in die Tiefe.

*

"Die feigen Bastarde sind nicht gekommen!" johlte der Schamane, als die Sonne ihre Strahlen über die Berge schickte und die Umgebung in ein helles Licht tauchte.
"Angriff!" erscholl es überall und die Menge setzte sich schreiend in Bewegung. Jede Kontrolle über den Mob war den Anführern entglitten.
Wie vom Wahnsinn befallen wurde alles niedergetrampelt, was nicht aufgrund seiner Größe der Vernichtung nicht anheimfallen konnte. Immer tiefer drangen sie in das Tal ein und schließlich traten hinter den Angreifern drei Gestalten auf den Weg, die zunächst kopfschüttelnd den planlosen Angriff betrachteten, sich dann aber an ihre Arbeit machten. Sie stellten sich auf und riefen in einer fremden Sprache Worte der Macht, ergriffen sich an den Händen und sprachen dann wie aus einem Mund.
Die Felsen der umgebenden Berge rückten näher zusammen, polterten knirschend aneinander und verschlossen das Tal schließlich. Der Rückweg war nun versperrt, anderen Auswegen widerfuhr zur gleichen Zeit ein ebensolches Schicksal.

*

Im Dorf der Waldelfen standen Frauen und Kinder zitternd um einen alten Magier versammelt, dessen lichtweißes Haar im morgendlichen Wind flatterte. Er trug die schwarze Kluft der Magier der Dunkelelfen, doch sein Überwurf war mit zahllosen unbekannten Symbolen verziert, mit denen die Waldelfen nichts anfangen konnten. Doron näherte sich dem Platz und ehrfürchtig traten alle beiseite.
"Es ist soweit, ehrenwerter Tjyzz", sagte der D'ynast leise und der Magier nickte kurz. In seinem Gehabe und in seinen Bewegungen spiegelte sich eine Macht wieder, die den Waldelfen unvorstellbar erschien. Und doch war keine Arroganz in seinem Benehmen, er nahm seine Umgebung nur ganz anders wahr.
Mit nur einer Geste brachte er sämtliche Geräusche der Umgebung zum Verstummen, eine weitere reichte aus, um den Wind nicht mehr wehen zu lassen! Dann funkelten seine lilafarbenen Augen und er murmelte Worte der Macht, wie sie seit Jahrhunderten an der Oberfläche dieser Welt nicht mehr vernommen worden waren. Während die ersten Angreifer den Waldrand erreichten stieg inmitten des kleinen Dorfes eine gelblich-orangefarbene Feuersäule aus dem Boden empor und einen kleinen Augenblick später manifestierte sich eine Wesenheit, die erschreckend war, wenn man nicht in der Tiefe aufgewachsen und bereits von Kleinauf mit diesen Wesenheiten konfrontiert worden war.
Selbst einige der umherstehenden Dunkelelfen traten unwillkürlich einen Schritt zurück, als der Mittler sich manifestierte und ein einzelnes großes, lidloses Auge den Magier aufmerksam zu betrachten schien. Dann entstanden an einer gut zwei Mann großen und sechszehneckigen Säule weitere Augen, welche die Umgebung und die Umstehenden musterten. Ein Fauchen ging von der seltsamen Kreatur aus, als sie das Licht der Sonne wahrnahm, das durchs Blätterdach drang. Mit einem lauten Krachen fuhr die Gestalt in den Boden, wühlte ihn auf und schickte den aufgewirbelten Staub in einem Aufbrausen gen Himmel, wo die Sonne verdunkelt wurde. Immer mehr und immer mehr Substanz aus dem Boden wurde in den Himmel geschleudert und so nahm das Licht des Tages merklich ab, bis über dem Tal eine Art Kuppel entstanden war, von der mehrere dünne Ströme zu der Wesenheit aus den Abgründen der Tiefe führten. In einem unfassbaren Akt war es diesem Wesen gelungen, für eine unnatürliche Dunkelheit zu sorgen, um eine Egalität zwischen Angreifer und Verteidiger herzustellen.
Die Dunkelelfen rührten sich nicht! Aber auch die Angreifer waren erstaunt zum Stillstand gekommen, während der Schamane sie brüllend weiter antreiben wollte. Doch auch er erfasste die Situation schnell, sah, welche Urmacht dort tobte und dass die Auswege versperrt worden waren. Dennoch wandte er sich trotzig an die für ihn noch immer unsichtbaren Gegner.
"Habt ihr euch also doch aus der Versenkung hervorgewagt?" Sein Kampfschrei fiel denkbar kläglich gegen das Tosen des Mittlers aus. Dann starteten die Elfen gemeinsam den Gegenangriff.

*

Wenn die Dunkelelfen mit einer Vehemenz zu Werke gingen, welche die Angreifer erschaudern ließ, so suchten die Waldelfen ihr Heil im Kampf mit Pfeil und Bogen. Als Resultat verblieb nicht mehr ein einziger lebender Angreifer, sieben getötete Dunkelelfen, neun tote Waldelfen und einige Verletzte.
Als sich die Dunkelelfen wieder zurückgezogen hatten, hinterließen sie ein verwüstetes Tal und der Magier entließ den Mittler mit einigen freundlichen Worten. Berge rückten auseinander und der aufgewirbelte Dreck rieselte wie Nieselregen zu Boden und überzog das Tal mit einer dichten Erdschicht.

Es dauerte Jahre, bis die Spuren der Verwüstung wieder beseitigt waren oder neue Pflanzen sich angesiedelt hatten. Und noch lange rätselten die Waldelfen, wieso die Dunkelelfen so viel riskiert hatten, um das Tal vor dem Zugriff der barbarischen Angreifer zu retten. Immerhin kam es zu regeren Kontakten zwischen den recht unterschiedlichen Elfen und dabei entdeckten sie, dass es vor so langer Zeit schon einmal Handel und reges Miteinander gegeben hatte.
Für Einige bedeutete dies alles selbstverständlich eine krasse Umstellung, aber im Laufe der Zeit sahen sie zumindest die Vorteile in der Partnerschaft, wenn sie schon nicht von Gleichberechtigung sprechen mochten.
Yadîr - wie auch einige andere seines Volkes - ließ sich mit einer Waldelfe im Tal nieder und so begann schließlich auch eine Vermischung der Völker. In deren Nachwuchs lebten beide Traditionen weiter und die vielen verschiedenen Fähigkeiten summierten sich zu neuen Möglichkeiten.


© Juli '93, Thomas Klaus