Die gestohlene Zeit

 

Auch wenn der Ort der Handlung real ist, so ist der Inhalt der Erzählung doch eine fiktive Spielrei mit der Zeit und eine kleine Abrechnung mit einer gewissen Buslinie, auf der Verspätung die Regel und nicht die Ausnahme ist.

 

 

Es war ein Vormittag wie jeder andere auch. Ich stand spät auf, weil ich die Nacht mal wieder viel zu lange vor dem Computer zugebracht und irgendwelche Spielchen gespielt hatte. Egal, es machte ja Spaß! Warum sollte ich es auch nicht tun, schließlich wartete ja nicht irgendwelche Arbeit auf mich ...

Ich erhob mich so gegen elf Uhr, zog mich gähnend und streckend an und wankte ins Bad, putzte die Zähne, warf mir ein wenig Wasser ins Gesicht und rasierte dann die wenigen Stoppelchen weg. Es war warm, also kurze Hose und Shirt ... dann die Umhängetasche, Handy ... und ab. Ich wollte in die Stadt und in wenigen Minuten würde der Bus kommen. Ich beeilte mich nicht, da die Linie sowieso ständig zu spät kam. In all den Jahren, in denen ich schon mit dieser Linie fuhr, kann ich mich ziemlich genau an die wenigen Male erinnern, dass ein Bus pünktlich gefahren ist. Es reichen die drei Zehen eines Huhns, um mitzuzählen. Allerdings war es mir ziemlich egal, ob der Bus nun ständig zu spät oder auch schon mal gar nicht kam. Nur bei miesem Wetter konnte einem das wirklich den Nerv rauben, da es kein Wartehäuschen gab.

Also ging ich ganz normalen Schrittes zur Haltestelle. Bis ans Ende der Straße, dann kurz nach Links auf die Dorfstraße. Natürlich grüßte ich einige Nachbarn, die zu einem Schwatz vor ihren Häusern standen oder mit was auch immer für Tätigkeiten beschäftigt waren oder schlicht ihrer täglichen Neugier frönten. Ein letztes Gähnen entrang sich meinem Munde, während mich die Strahlen der Sonne trafen und ich mit verkniffenem Gesicht die Sonnenbrille hervorkramte und mit der anderen Hand unterdessen die Augen beschirmte. Nachdem sich die Augen hinter den dunklen Gläsern geschützt fühlten entschwand das verkniffene Gesicht und wich meiner mehr oder weniger freundlichen Mine, wobei das ‚weniger' ein deutliches Indiz für die frühe Stunde war.

Ich bog also in aller Ruhe um die Ecke. Und was musste ich da sehen? Genau! Hundert Meter vor mir stand der Bus an der Haltestelle! Was fiel dem Typen ein, einfach pünktlich zu sein? Der Fahrer musste entweder neu oder einer von der Sorte Mensch sein, die exakt nach Plan funktionieren. Ich fluchte innerlich und erinnerte mich daran, dass es in diesem Land eine ganze Menge Leute gab, die nach der Uhr und einem Plan lebten und eine Menge Dinge ebenfalls einem genauen Plan folgten. Und das war gut so, denn sonst wäre es mir schwer gefallen, einen großen Teil meines Lebensunterhalts auf einfache Art und Weise zu verdienen.

Ich fluchte erneut, setzte mich in einen leichten Trab auf den Bus zu. Der Fahrer blickte noch einen einsteigenden Mann an, es war also sinnlos, zu winken. Normalerweise rannte ich nicht Bussen oder sonst wem hinterher, hatte aber ebenso wenig Lust, mindestens dreißig Minuten auf den nächsten Bus zu warten. Außerdem würde der dann so oder so wieder mindestens zehn Minuten zu spät kommen ... Da wäre noch der Weg durchs Dorf bis zur nächsten Haltestelle, denn dort fuhr noch eine weitere Linie. Öfter und auch pünktlicher. Aber den sicheren Transport vor Augen, setzte ich mich dann eben doch ausnahmsweise in Bewegung, obwohl dies meiner grundsätzlichen Philosophie widersprach.

Noch gut fünfzig Meter. Der Fahrer betätigt einen Knopf, um die Tür zu schließen, dann drehte er den Kopf mitsamt Oberkörper und schaute in den linken Außenspiegel. Den Bruchteil einer Sekunde später war die Tür fast zu und der Blinker nach Links flammte erstmals auf.

Der wollte doch nicht ernsthaft abfahren!? Als er sich dem Blick zum Rückspiegel gedreht hatte, musste er mich gesehen haben ... Obwohl, es gab ja solche Arschlöcher, die dann absichtlich abfuhren und einen im letzten Augenblick noch freundlich grinsend anblickten und trotzdem stehen ließen. Und irgendwie war mir so, als würde dieser Korinthenkacker, der ja schon unverschämterweise pünktlich war, nicht warten oder etwa nochmals anhalten, nachdem er sein Vehikel erst einmal in Bewegung gesetzt hatte.

Sechzig Katastrophen mögen ihn treffen! Ein letzter Versuch: Ich hob im Laufen den Arm hoch und fuchtelte wild in der Luft herum, in der Hoffnung er sei nur blind und kein Arschloch, aktivierte mein durchaus lautes Organ und brüllte vernehmlich: "Halt!"

Und - Wunder über Wunder! - fuhr er nicht ab, sondern wartete, bis ich die Distanz zur Türe überbrückt hatte. Schnaufend wartete ich darauf, dass die Tür, die vielleicht noch zwei Spannen weit geöffnet war, zuklappte und sich dann wieder öffnete. Nichts rührte sich. Wenn dieses Riesen-Arschloch jetzt noch weiterfahren würde, finge sich der Bus einen deftigen Tritt gegen die hintere Türe ein. Und ich war mir ziemlich sicher, dass der Hempel dann wieder anhalten würde!

Die Tür ging weder zu noch auf. Ich blickte auf und zu dem Idioten auf dem Fahrersitz hin. Der saß, halb in einer Drehung nach Links verhaftet auf seinem Sitz, hatte das Lenkrad fest im Griff und stierte in den linken Außenspiegel, als sei er eben schockgefrostet worden. Die Situation war absurd. Es rührte sich nichts und niemand. Und mit einem Blick nach Rechts, die Dorfstraße hoch, stellte ich mit Befremden fest, dass ein herannahendes Auto und zwei oder drei Passanten auf der gegenüberliegenden Straßenseite ebenfalls in Starre gefallen waren. Über der Straße waren drei Amseln in der Luft irgendwie festgenagelt oder an unsichtbaren Schnüren aufgehangen worden.

Ich schluckte, dann lachte ich laut auf und das Lachen erfüllte irgendwie die gesamte Umgebung. Erschreckt sah ich mich um und bemerkte die nächste Absurdität. Genauer gesagt bemerkte ich etwas eben nicht: Geräusche. Es herrschte absolute Stille!

Die Situation war erschreckend, gespenstisch ... absurd. Doch dann ging mir schlagartig ein Licht auf. Ich hatte wohl doch ein bisschen viel von diesem grünen Zeug geraucht in der letzten Nacht. Vorsichtig trat ich einen Schritt zurück und wartete darauf, dass sich die Situation und meine Wahrnehmung normalisierte. Es machte keinen Sinn, gefangen in einem Flashback auf die Straße zu tappen und angefahren zu werden.

Problem: Nichts veränderte sich. Keine Geräusche, außer denen, die ich selbst verursachte. Obendrein sah das hier bei genauerer Betrachtung auch nicht wie ein Flashback aus ... irgendwie. Mit einem "Hmmm ...." näherte ich mich wieder der vorderen Tür des Busses, die nach wie vor einen Spalt weit offen stand. Ich hatte schon oft genug beobachtet, dass die Fahrer an den Endhaltestellen die Tür durch den Druck auf einem rechts neben der Tür halbwegs verborgenen Knopf von Außen schlossen oder öffneten. Also suchte ich kurz und fand ihn zwischen einer der Abdeckungen. Ich drückte darauf und mit einem Zischen schlug die Tür erst zu, flog dann aber wieder weit auf.

Mit einem schnellen Schritt sprang ich in den Bus und hielt mich sofort irgendwo fest. Wer konnte schon wissen, wann sich das Vehikel wieder in Bewegung setzen würde? Es rührte sich nichts, auch die wenigen Fahrgäste machten keine Anstalten, als wollten sie sich in der nächsten Sekunde wieder in irgendeiner Form bewegen.

Ich kam mir bescheuert vor, setzte mich aber einfach irgendwo hin und beobachtete das Szenario. Oder besser gesagt die Szene ... Es geschah wieder absolut nichts.

Dann kam mir eine wirklich gute Idee. Ich kramte mein Handy hervor und sah auf die Uhr. Vier Minuten waren bisher vergangen und gerade sprang die Ziffer um. Fünf Minuten. Die Zeit lief scheinbar normal weiter ... oder zumindest meine Uhr. Was also tun? Musste oder konnte ich überhaupt etwas tun?

Ich stand auf und ging durch den Gang zu einer jungen und wirklich gut aussehenden Frau. Wenn schon auf Inspektion, dann musste ich mir ja nicht gerade ein Opfer aussuchen, das hässlich war. Sie saß alleine in einer Viersitzgruppe, Ohrstöpsel in den Ohren und lauschte irgendwelchen Klängen, die es ganz offensichtlich seit gut fünf Minuten nicht mehr wirklich gab. Ein ganz wundervolles Lächeln umspielte ihre Lippen, grüne Augen blickten hinaus auf die gegenüberliegende Straßenseite. Ich folgte dem Blick, aber da war nichts besonderes. Wahrscheinlich hing sie ihren Gedanken nach ...

Ich fuchtelte mit einer Hand vor ihren Augen herum, nachdem ich mich ihr gegenüber niedergelassen hatte. Würde die Welt sich in diesem Augenblick wieder in Bewegung setzen, hätte ich mir mit Sicherheit nicht nur einen bösen Blick eingefangen. Aber es setzte sich nichts in Bewegung. Sie reagierte weder auf mein Gefuchtel noch auf Ansprache. Also ergriff ich vorsichtig ihren rechten Arm, der auf ihrem Bein lag. Gut, die Hand war warm ... und geschmeidig. Dann bewegte ich den Arm vorsichtig, schließlich ging es nicht darum sie zu verletzen. Kein Widerstand. Erstaunt ließ ich den Arm in leicht ausgestreckter Position los. Und dort verharrte er. Dann ergriff ich ihren Kopf vorsichtig mit beiden Händen und drehte ihn in meine Richtung, bis ihr Blick mitsamt dem entzückenden Lächeln auf mir ruhte. Naja sagen wir mal, der Blick ging nun in meine Richtung. Ich lächelte freundlich zurück und wusste auch gleich, wie bescheuert das war. Wenn alles wieder los ging, während ich sie gerade neu ‚justierte', konnte ich froh sein, wenn sie keinen Kampfsport beherrschte! Aber was sollte es schon, es rührte sich rein gar nichts ...

Sieben Minuten waren vergangen, wie ich durch einen raschen Blick auf ihre Armbanduhr feststellte. Die Zeit lief also definitiv weiter. Die Sekunden wechselten brav im alten Takt die Zahlen ... Dann ertappte ich mich dabei, wie mein Blick über ihren Körper wanderte, kurz bei der wohlgeformten Oberweite unter einem engen Shirt hängen blieb und sich dann tieferen Regionen widmete, wo er hängen blieb. Die Hirnwindungen beschäftigten sich dann mit ihr in einer deutlich anderen Pose ...

"Scheiße!" rief ich und sprang auf, als hätte mich gerade der Blitz getroffen. Zu jeder anderen Situation mochte man vielleicht einen Gedanken daran verschwenden, aber das hier ging jetzt zu weit. Ich ließ sie in Ruhe und blickte mich nicht weiter um.

Ob sie wohl mitbekamen, was ich gerade tat? Immerhin waren sie ja nicht tot. Ein Frösteln lief mir über den Rücken, dann versuchte ich - trotz der morgendlichen Stunde - zu rekapitulieren, was genau geschehen war. Bis zu meinem "Halt!" kam ich und mir stockte der Atem. Das konnte doch nicht wahr sein!? Die Zeit lief doch weiter!?

Neun Minuten.

Ich setzte mich eine Bank hinter die Schönheit und startete einen Versuch: "Weiter."

Die schlagartig wieder einsetzenden Geräusche verursachten einen schmerzvollen Stich in meinen Gehirnwindungen, die Schönheit schien für einen Moment irritiert, sah dann aber wieder zum Fenster hinaus. Der Bus setzte sich in Bewegung und der Fahrer vollendete seine Bewegung und blickte nach vorne. Einen Augenblick später hielt er wieder an. Deutlich irritiert sah er zu der offenen Türe hinüber, schloss sie mit einem Antippen des entsprechenden Knopfes auf seinen Armaturen und - ich sah es im Innenspiegel - starrte fassungslos auf sein Cockpit. Dann riss er förmlich seinen linken Arm hoch, aber auch hier zeigte ihm seine Uhr, dass er jetzt eine Verspätung von zehn Minuten hatte. Das Entsetzen und die Fassungslosigkeit in seinem Blick ... Ich konnte nicht anders und brach in schallendes Gelächter aus.

Der Fahrer blickte verstört und gereizt in den Innenspiegel und sein Blick lastete auf mir. Die Schönheit drehte sich um und warf mir einen bösen Blick zu, da ich ihren Hörgenuss durch mein lautes Lachen jäh unterbrochen hatte. Ich machte eine abwehrende und entschuldigende Geste und wies auf meine Handy, so als hätte mich irgendeine Nachricht zum Lachen gebracht. Mit einem kurzen Kopfschütteln drehte sie sich wieder herum und sah zum Fenster hinaus. Ich packte endlich das Telefon weg, das ich noch immer in der Hand hielt. Der Fahrer setzte endlich seinen Bus in Bewegung, starrte aber immer wieder in den Spiegel.

An der nächsten Haltestelle durfte er sich zu allem Überfluss das Gemecker einiger alter Herrschaften anhören, die ja meist sehr bedacht darauf sind, dass alles nach Plan läuft. Nicht alle, wohlgemerkt, aber es gab sie und hier waren sie, als hätte das Schicksal sie höchstselbst zu dieser Fahrt eingeladen. Vor meinem geistigen Auge zeichnete sich bereits deutlich ab, dass auch der Korinthen kackende Busfahrer auf dem besten Wege war, eine solch verknitterte Gestalt zu werden, die sich über alles und jeden auslässt. Jedenfalls hatte ich für mich beschlossen, dass es wohl so sein würde. Ich wischte mir die Tränen aus den Augen und versuchte wirklich, mich wieder einzukriegen. Es war schwer und die Bauchmuskulatur schmerzte.

Ein wehleidiges "Ich kann nichts dafür." des Fahrers wurde mit einem zackigen "Bei Adolf wär' das nicht passiert!" gekontert, was nicht gerade für Hochstimmung beim Fahrer sorgte und es mir deutlich erschwerte, die Fassung wieder zu erlangen.

Und während ich so da saß und die einsteigenden Fahrgäste bewunderte, kam mir eine Idee. Naja, nicht wirklich eine Idee, aber ein Gedanke durchzuckte mein Gehirn: War das eine einmalige Aktion oder würde es erneut funktionieren? Musste ich nur ‚Halt' sagen oder laut brüllen, wie vorhin, als ich auf den Bus zugelaufen war? Im einen Augenblick noch nachdenkend, stellte ich im nächsten schulterzuckend fest, dass es keinen anderen Weg gab, es herauszufinden, als es auszuprobieren.

"Halt", sagte ich relativ leise, so dass ich es selbst gerade noch hören konnte. Die Umgebung gefror, kaum dass ich das Schlüsselwort ausgesprochen hatte und ich kam mir einsam, bescheuert, beschenkt ... naja, eben irgendwas zwischen all diesen Dingen vor.

Eine irre Idee schlich sich in mein Denken.

"Zurück!"

Pustekuchen! Das war wohl nichts. Allerdings stand die Zeit ja auch nicht still, sondern es rührte sich nichts und niemand. ‚Vor' und ‚Vorwärts' waren ebenso erfolglos. Allerdings bot die augenblickliche Situation Möglichkeiten über Möglichkeiten sowohl meiner verspielten Ader, als auch meinem Gewerbe nachzugehen.

Oh. Ich hatte ja noch gar nicht erwähnt, was ich so treibe, um den Kühlschrank aufzufüllen. Ich bin das, was sie einen Dieb nennen, auch wenn das Geschäft in den letzten Jahren nicht einfacher geworden ist. Billige und trotzdem gut funktionierende Alarmanlagen, Überwachungskameras, die man wirklich so verstecken kann, dass man absolut keine Chance hat, den Aufnahmen zu entgehen ... und dann ist da noch der unangenehme Punkt mit der DNA-Analyse. Naja, zumindest, falls man was wirklich Großes angezettelt hat. OK, das ist sicher nicht ihre Vorstellung von einem ehrbaren Bürger, aber ich kann nun mal nicht anders. Ich habe oft genug versucht, mein Geld auf die herkömmliche Art zu verdienen, aber ich landete immer wieder und - um ehrlich zu sein - voller Hingabe bei irgendwelchen Diebereien ... Meine Ehre bewahre ich mir, indem ich keine Waffe mitnehme und es zu vermeiden suche, Leute zu bestehlen, die so oder so nicht viel haben. Gut, die Grenze ist relativ und ich lege sie selbst fest, aber ich denke, ich habe mir über die Jahre in gutes Augenmaß zugelegt. Jedenfalls hoffe ich das doch sehr.

Im Bus war jedenfalls niemand, dem ich auch nur einen Euro aus der Tasche gezogen hätte. Nicht einmal dem Fahrer. Busfahrer verdienen ohnehin schon wenig genug und dieses Exemplar hier war bereits ausreichend damit bestraft, dass sich seine Verspätung vermehrte, ohne dass er einen Grund dafür ausmachen konnte. Würden die anderen in ihrer Starre etwas wahrnehmen, hätte mich die Schönheit vor mir sicher nicht nur mit Worten traktiert!

OK. Keine Kohle, dann wenigstens Spaß. Hinten im Bus hockte ein Jugendlicher, deutlich in der Hiphop-Szene zu Hause, was an den Klamotten und der obligatorischen Kopfsocke zu erkennen war. Seine Ohrstöpselchen wanderten von den Ohren in die Nasenlöcher, dann noch schnell die Lautstärke auf volle Leistung. Eine rasche Inspektion seiner Taschen förderte ein Tütchen mit Gras zu Tage, welches ich aus gesundheitlichen Gründen beschlagnahmte, mehr war aber nicht drin. Die winzige Gestalt eines Yorkshire, Hunde, die ich zumeist als Fußhupe bezeichnete, wanderte von Frauchen auf den Schoß des Fahrers, der in gefrorener Unschuld beteuerte, dass er eigentlich pünktlich gewesen war und sich überhaupt nicht erklären kann, wo die zehn Minuten geblieben waren und er deshalb zu spät sei.

"Zwanzig.", korrigierte ich ihn und richtete die Töle so aus, dass er nicht gleich von dem verstörten Köter gebissen werden konnte. Kein Grund für unnötiges Blutvergießen, sagte ich mir mit einem Grinsen auf den Lippen. Insgeheim fragte ich mich ernsthaft, wie lange ich diesen Zustand aufrecht erhalten konnte oder ob dies auch für alle Ewigkeit so bleiben würde? Doch der rasche Gedanke machte meinem Spieltrieb platz und so tauschten der ältere Herr, der der Überzeugung war, dass es bei Adolf besser gewesen sei, den Mantel mit einer älteren Dame (Eine Aktion die an Schwerstarbeit grenzte!), Taschen wanderten zu den falschen Besitzern, Brillen auf die falschen Nasen, Schuhe neben die Füße ... wobei ich mit Befremden feststellte, dass sich Gerüche offensichtlich nicht eindämmen ließen. Alles in allem ein Chaos. Ein harmloses Chaos! Als ich endlich fertig war, stellte ich verwundert fest, dass inzwischen weitere dreißig Minuten verstrichen waren und ich wieder vor der Schönheit stand und mir überlegte, was ich mit ihr anstellen könnte. Seufzend setzte ich mich ihr gegenüber hin und irgendwie schienen mir ihre Blicke zu sagen, ich soll es ja nicht wagen. Ich wühlte kurz in ihrer kleinen Tasche herum, fand aber nichts Produktives. Dann fingerte ich ihr Handy aus einer der Taschen ihrer sommerlichen Jacke, programmierte meine Nummer nebst sinnvollem Pseudonym ins Gerät und hoffte darauf, dass sie vielleicht irgendwann einmal darüber stolpern würde. Bescheuert, aber was soll's!

Ich setzte mich wieder brav auf meinen Platz, zog ihr den Stöpsel aus dem rechten Ohr, gab das Kommando und fügte schnell und nur für ihr Ohr "Und Dich hab' ich verschont ..." hinzu.

Erschrocken fuhr sie herum, sah mich irritiert an, bevor ihr ein warnendes "Typ!" entfuhr und steckte sich den Stöpsel beinahe wieder ins Ohr. Doch dann wurde sie des Chaos um uns herum gewahr!

Die Fußhupe hüpfte kläffend vom Schoß des nicht minder erschrockenen Fahrers, der die Welt nicht mehr verstand und spätestens nach einem Blick auf die Uhr entweder an einem Herzschlag sterben oder augenblicklich in den Boden versinken würde, während das entgeisterte Frauchen am Ende ihrer Leine einen nicht minder verstörten Herrn mittleren Alters am Boden und auf allen Vieren vorfand. Mr. Cool in Gestalt des Hiphop-Freaks schniefte sich dank des Kribbelns in der Nase die Ohrstöpsel mit einem Niesen aus der Nase und wirkte jetzt alles andere als cool. Der alte Mann versicherte lautstark, dass ihm bei Adolf der Mantel sicher nicht abhanden gekommen wäre und machte sich nach einer Tauschaktion mit der Frau meckernd und auf Strümpfen auf den Weg zu einem Sitzplatz. Die Frau war nicht weniger konsterniert. Nach einem kurzen Moment war dann auch klar, dass Adolf sogar dafür gesorgt hätte, dass seine Schuhe nicht da vorne im Gang des Busses stehen, sondern sich nach wie vor an seinen Füßen befinden würden. Es kehrte für einen kurzen Augenblick Ruhe ein.

Meine Schönheit bewunderte das Chaos um sich herum, drehte sich mit offenem Mund immer wieder zu mir herum und schien zwischen Faszination, Entgeisterung und Lachen zu schwanken. Ich nickte nur kurz, nachdem sie mich zum dritten Male ansah, schließlich konnte man mir ja sowieso nichts beweisen. Ein "Wie ...?" kam noch über ihre Lippen, aber dann war es um uns beide geschehen und wir brachen in schallendes Gelächter aus, während die Brillen im Bus wieder an die richtigen Besitzer weiter gereicht wurden. Mir schmerzte ehrlich jeder Muskel in der Bauchgegend und die Tränen flossen in Strömen, während sich die Situation - auch unter den Blicken von Passanten, die am Bus vorbei gingen - langsam normalisierte.

Und während ich noch mit den Auswirkungen meines Lachkrampfes beschäftigt war, bemerkte ich gleich neben mir im Gang den Fahrer, dem die Zornesröte ins Gesicht gestiegen war und dessen stierer Blick auf mir ruhte. Ich sah ihm in die Augen und konnte mich nur schwer beruhigen. Wäre er nicht so schwer gewesen, hätte ich ihn vermutlich während alles stillstand draußen auf die Bank ins Wartehäuschen gesetzt. Er schnaubte, sagte aber keinen Ton, drehte sich herum und rannte förmlich zu seinem Sitz.

Die junge Frau drehte sich zu mir herum und da war noch immer der fragende Blick in ihren Augen, aber auch ein Maß an Irritation, dass mir gar nicht gefiel. Ich lehnte mich an die Rückenlehne und sagte nichts mehr.

Unter den ständigen Blicken des Fahrers erreichten wir endlich den Bahnhof. Ich verabschiedete mich freundlich mit einem Winken von der davoneilenden Schönheit und blieb erst mal sitzen. Mit dem Korinthenkacker war ich noch nicht ganz fertig ...

Er kurbelte wütend und in aller Hast am Zielschild, da er jetzt sogar für die Rückfahrt schon deutlich verspätet war. Dann kam er nach hinten, kurbelte nun am Zielschild für die Seite und starrte mich immer wieder wütend an. Mir war klar, dass er es wusste! Irgendwie! Ich lachte in mich hinein. Mein Grinsen gefiel ihm sicher gar nicht und er verlor jetzt völlig die Fassung.

"Raus jetzt!", kreischte er hysterisch. "Stehlen Sie mir nicht meine Zeit!"

"Und was", entgegnete ich höhnisch, "wenn doch?"

 

© 25. April 2004, Thomas Klaus