Meandras
linke Hand ruhte auf dem Porträt in Öl. Sie wirkte entspannt,
wie stets, wenn sie in Gedanken bei ihrem alten Lehrmeister und
Freund war. Selbst die Zeit eines Erzmagiers war begrenzt. Eine
schmerzliche Erkenntnis, die ihr vor nun zehn Jahren zuteil wurde
und die ihr Leben für eine Weile aus der Bahn geworfen hatte.
Manrar war für sie neben der Magie der Inhalt ihres Lebens
gewesen: Lehrer, Freund und auch ein Vater.
Sie seufzte tief
und blinzelte eine Träne weg. Die Magie war ihr geblieben und
mit ihr das Vermächtnis eines der mächtigsten Magier,
den diese Welt gekannt hatte. Er hatte ihr alles beigebracht und
heute war sie die erste Erzmagierin. Sie lächelte bei dem Gedanken
an den Augenblick, als Manrar sie im Rat erst als seine Gehilfin,
später als seine Nachfolgerin vorgestellt hatte. Eine Frau
im illustren Kreis von Männern, den die Welt zu bieten hatte
... Allerdings wagte auch niemand dem alten Manrar zu widersprechen
und ihre herausfordernden Blicke trafen die der anderen vierzehn
Erzmagier des Rates. Heute hatten sie sich an ihren Anblick gewöhnt
und kannten ihre Fähigkeiten. Meandra hatte allerdings Zweifel,
dass sie für die Kollegen etwas anderes als ein Magister der
Magie war. Mit Frauen taten sich die hohen Herren noch immer schwer
und verweigerten den Zugang zu den Akademien nach wie vor.
Meandra löste
ihren Blick mit einem dezenten Schmunzeln und noch ganz in Gedanken
von dem Porträt. Ihre dunkelblaue, samtene Robe knisterte,
als sie sich durch das üppig ausgestattete Studierzimmer Manrars
auf den hohen Sessel zu bewegte. Sie hatte es immer nur den Ruheraum
genannt. Es war hier so gemütlich und bequem, dass sie dort
nicht arbeiten konnte. Auch daran hatte sich nichts geändert,
außer dass es inzwischen eher eine Art Museum der Erinnerungen
für sie war. Nichts, was sie nicht voller Zuneigung und Liebe
an den alten Manrar erinnert hätte.
***
Meandra war schon
immer anders, als die anderen Kinder. Während Naori, ihr Bruder,
mit Freunden draußen herumtollte, verschlang sie förmlich
jedes Buch, jede Schrift, die sie in die Finger bekam. Später,
ihr Bruder war bereits Angehöriger der königlichen Garde,
diskutierte sie mit ihm beinahe täglich über Politik.
Das ging so weit, dass ihr Vater, Angestellter der Stadtkämmerei
der Hauptstadt Ernestyr, ihr damit drohte, sie aus dem Hause zu
werfen, wenn sie weiter den König oder die Politik seiner Regierung
kritisieren würde. Mehr als ein Mal hatte sie dann wutschnaubend
das Haus verlassen und war durch die Straßen gelaufen, um
sich abzureagieren. Mehr als ein Mal war sie in jenen Tagen auch
an der Akademie der magischen Künste vorbeigekommen. Immer
öfter blieb sie davor stehen, war sich nicht schlüssig,
warum genau sie dort stehen blieb. Irgendetwas in ihrem tiefsten
Inneren mochte es sein, aber sie ertappte sich natürlich auch
dabei, die jungen Magier und Studenten der arkanen Wissenschaften
genauer zu mustern. Und mehr als einer hatte ihr ein Lächeln
zugeworfen, denn Meandra war alles andere als hässlich.
Eines schönen
Morgens in der Mitte des Sommers, als sie ihr siebzehntes Lebensjahr
bereits vollendet hatte und sich ihre Eltern fragten, was aus dem
Mädchen denn werden solle, eröffnete sie der Familie am
Mittagstisch, dass sie daran denke, die magischen Wissenschaften
zu studieren. Ihrem Vater blieb sprichwörtlich das Essen im
Halse stecken, ihr Bruder war wenig überrascht und ihre Mutter
blickte sie entsetzt an.
"Kind",
hatte sie damals gesagt, "bist du denn völlig verrückt
geworden? Du weißt doch, dass die Akademie keine Frauen annimmt."
Meandra hatte
nur genickt, ließ sich beim Essen jedoch nicht stören.
Erst einige Bissen später setzte sie hinzu: "Das stimmt
so nicht, Mutter. Die Akademie hat bis jetzt keine Frauen angenommen."
"Und wieso",
gab ihr Bruder, ein Schmunzeln verbergend, zu bedenken, "sollten
sie gerade für dich eine Ausnahme machen?"
"Vor sechs
Jahren begann die Garde damit, auch Frauen auszubilden". Meandra
starrte Naori durchdringend an. Von ihm hatte sie am wenigsten Widerspruch
erwartet.
"Die Akademie
untersteht nicht dem König ..."
"Sondern
dem Zirkel der Erzmagier. Jaja." Meandra winkte ab und beendete
ihre Mahlzeit, räumte ab und spülte das Geschirr oberflächlich.
"Mal ganz
abgesehen von der Tatsache", meinte Meandras Vater, der sich
wieder einigermaßen gefangen hatte, "dass sie vermutlich
eher einen Esel aufnehmen, als eine Frau, würde es mich wirklich
brennend interessieren, wer die teure Ausbildung bezahlen soll?"
Meandras Blick
heftete sich voller Unverständnis auf ihren Vater. Bevor es
jedoch dazu kam, dass die zwei sich stritten, gab Meandras Bruder
zu verstehen, dass er sie notfalls unterstützen würde.
Er hatte seine jüngere Schwester sowieso stets in Schutz genommen
und ihr geholfen, wann immer es nötig, gelegentlich auch wenn
es alles andere als notwendig, war. Sogar jeden aufgeflogenen Schabernak,
der eigentlich auf ihr Konto ging, nahm er auf seine Kappe und hatte
dann die Strafe auszubaden. Sie liebte Naori dafür und sie
mochte seine freundliche und doch bestimmte Art, an der auch seine
harte Ausbildung bei der Garde und später sein Dienst nie etwas
zu ändern vermochten.
"Schön",
hatte sie darauf nur knapp geantwortet, stand auf und machte sich
schnurstracks auf den Weg zur Akademie, um sich einschreiben zu
lassen.
Wie nicht anders
zu erwarten, ließ die Torwache sie nicht hinein. Die meisten
Angehörigen der Akademie beachteten sie im Vorbeigehen nicht
einmal, andere hatten nur Hohn und Spott für sie übrig.
Schließlich gelang es ihr, einen Magister am Ärmel zu
erwischen und ihr Anliegen zur Hälfte vorzutragen, bevor sie
ein kleiner Blitz zu Boden warf.
"Bist du
völlig von Sinnen?", zischte der Mann wütend und
wischte den Ärmel seiner Robe nachdrücklich ab, ganz so
als müsse er Schmutz dort entfernen. Bevor Schlimmeres passieren
konnte, eilte ein junger Akoluth herbei und erinnerte den Magister
daran, dass er vom Dekan dringend erwartet wurde. Mit einem Grunzen
quittierte dieser die Erinnerung, reinigte erneut den Ärmel
und entfernte sich mit wehender Robe.
Der junge Mann
streckte darauf Meandra die Hand hin und half ihr wieder auf die
Beine. Er lächelte sie freundlich an.
"Ihr solltet
das nicht tun", meinte er ernst.
"Was?",
fragte Meandra, noch immer wütend über das Verhalten des
Magiers. "Was soll ich nicht tun? Mich hier einschreiben?"
Sie ergriff die Hand und ließ sich helfen.
"Oh ... darum
geht es." Der Blick des Akoluthen wirkte nachdenklich. "Ich
habe hier zwar noch nie eine Frau gesehen, aber ich muss gestehen,
dass ich keine Ahnung habe, ob es eine Regel gibt, dass Ihr euch
nicht einschreiben könnt. Allerdings gibt es in der Tat eine
Regel, die Frauen das Betreten des Geländes der Akademie nur
in Begleitung eines Magiers gestattet."
"Ach?"
Meandra entfernte den Staub der Straße von ihrer Kleidung.
"Ja ... und
rein zufällig bin ich Magier an dieser Akademie."
Meandra beäugte
die nur mit wenigen Symbolen bestickte Robe ihres unwesentlich älteren
Gegenübers.
"Naja",
setzte er hinzu, nachdem er ihren skeptischen Blick bemerkte. "Magier
ersten Grades. Aber das reicht aus, um in meiner Begleitung das
Gelände zu betreten. Gehen wir?"
"Du hilfst
mir beim Einschreiben?" Sie war nach wie vor skeptisch.
"Ich sagte
schon, ich keine Ahnung habe, ob dies geht, aber ich kann euch zum
Dekan bringen." Er lächelte. "Magister Ehrani ist
ein freundlicher alter Herr. Wenn es möglich ist, wird er euch
sicher helfen. Und übrigens, mein Name ist Matia."
"Na schön."
Meandra ergriff den Arm des Mannes. "Gehen wir, Magister Matia."
"Einfach
Matia. Und euer Name?"
"Meandra."
Er nickte und
gemeinsam betraten sie unter den skeptischen Blicken der Torwache
das Gelände der Akademie. Kribbeln und Schauer der Erregung
liefen Meandra den Rücken hoch und runter, während immer
mehr der Studenten und Magier sie musterten.
Wie nicht anders
zu erwarten weigerte man sich, Meandra aufzunehmen, und auch wenn
der Dekan freundlich blieb und das Anliegen verstand, mochte er
doch keine Ausnahme machen. Matia geleitete die wütende und
enttäuschte Meandra bis zum Tor und verabschiedete sich dann
nachdenklich.
Tage später
erschien der junge Matia bei Meandra zu Hause und verlangte, sie
zu sprechen.
"Wie hast
du mich gefunden?", wollte sie wissen. "Und was willst
du?"
"Es war nicht
sehr einfach, euch zu finden", entgegnete Matia und bat mit
einer Geste darum, eingelassen zu werden. Meandras Mutter sah den
jungen Magier mit Erstaunen an und ihr fragender Blick ruhte dann
auf ihrer Tochter, die sich aber nicht darum kümmerte. Meandra
ließ ihn ein und bot ihm einen Stuhl an.
"Also?"
Meandra stand mit verschränkten Armen ihrem Gast gegenüber.
Matia lächelte sie verschmitzt an und kramte eine Schriftrolle
aus einer Tasche seiner weiten Robe hervor.
"Ich habe
euch etwas mitgebracht, Meandra."
Er hielt ihr die
Rolle entgegen und sie betrachtete sie mit erstauntem Gesicht. Da
war wieder dieses Kribbeln.
"Ihr wart
so nachdrücklich und ich denke, ihr habt das erforderliche
Durchsetzungsvermögen. Aber wenn euch nie jemand testet, werden
wir wohl kaum erfahren, ob ihr in der Lage seid, Magie zu wirken."
"Du ..."
Meandra sah Matia erstaunt an. "Du willst mich testen?"
Jetzt blickte
Matia für den Moment wenig geistreich drein, fing sich aber
schnell wieder und lachte.
"Nein, ich
denke nicht, dass ich das kann. Aber nehmt die Schriftrolle."
Er wedelte mit dem Stück Pergament. "Darauf findet ihr
die einzige Möglichkeit, wie ihr Magie erlernen könnt
und dies auch anerkannt und nicht als verbotene und wilde Magie
geächtet wird."
Sie nahm die Schriftrolle
stirnrunzelnd entgegen und löste das blaue Band, um einen Blick
darauf zu werfen. Namen, Orte, Wegbeschreibungen ... Ihr irritierter
Blick ging vom Papier auf den jungen Magier über.
"Die Namen
und Orte", entgegnete er trocken, "an denen ihr die Erzmagier
findet. Nur diese dürfen außerhalb der Akademien ausbilden."
"Oh ..."
Meandra entrollte das gesamte Dokument und überflog Namen und
Anschriften.
"Zumindest
die Wohnorte sind geheim." Matia lehnte sich ein wenig vor
und wirkte angespannt. "Von mir habt ihr die Rolle nicht."
"Welcher
ist der Beste?", verlangte Meandra zu wissen, ohne auf den
vorigen Kommentar einzugehen und Matia musste sich ein Grinsen verkneifen.
Irgendwie hatte er damit gerechnet.
"Hochmagister
Manrar Daranir", antwortete Matia nach kurzem Überlegen,
lehnte sich dann entspannt zurück. "Allerdings hat er,
so weit ich weiß, in den vergangenen zweihundert Jahren niemanden
ausgebildet oder auch nur empfangen. Zu den Sitzungen des Hohen
Rates taucht er angeblich auch nur gelegentlich auf. Er ist eine
Legende ... schlagt euch das aus dem Kopf. Er würde ..."
Eine knappe Geste
gebot dem Magier zu schweigen. "Gut. Ich danke dir wirklich,
Matia. Ich werde niemandem sagen, woher ich diese Informationen
habe." Darauf verschwand sie in ihr Zimmer und begann zu packen.
Meandras Mutter
fragte Matia, ob er etwas zu trinken oder zu essen wolle.
"Vielen Dank,
gute Frau", erwiderte er freundlich. "Sagt, ist eure Tochter
immer so ... zielstrebig?"
Die Mutter seufzte
tief. "Wenn sie es sich in den Kopf setzen würde, wäre
sie vermutlich die nächste Königin. Was um alles in der
Welt hat sie da von euch bekommen?"
"Das",
antwortete Matia mit ernster Miene, "darf ich euch nicht sagen."
Meandras Mutter
nickte und sah dem Magier nach, wie er die Straße hinunterging.
Am späten
Nachmittag eilte Meandra zum Hafenamt und verlangte zu wissen, wann
das nächste Schiff zur weit im hohen Norden liegenden Insel
Kasena fahren würde. Der Beamte sah sie zunächst einen
Augenblick an, als habe ihn jemand gebeten, einen Termin bei Fakana,
dem Seegeist, zu machen, begann dann aber damit, die Bücher
zu wälzen. Heraus kam dabei, dass es von hier aus keine direkten
Verbindungen gab und lediglich aus der freien Stadt Laghura zwei
Mal im Jahr ein Schiff die Insel anlief. Über die Auslaufzeiten
konnte er ihr jedoch keine Auskunft geben.
Wenig später
buchte Meandra eine Passage auf einem Dreimaster, der bereits am
Morgen des folgenden Etian, also in zwei Tagen, nach Laghura auslaufen
würde. Die eine Hälfte zahlte sie, für den Rest vereinbarte
sie, in der Kombüse und auf Deck zu arbeiten. Ihr Bruder besuchte
den Kapitän während seines Dienstes in der Uniform eines
Offiziers der königlichen Garde und unterrichtete ihn, dass
er ihn sofort beim nächsten Einlaufen verhaften würde,
sollte er nicht in regelmäßigen Abständen Nachricht
von seiner Schwester erhalten.
Meandra wusste
natürlich nichts davon, wunderte sich aber, wie fürsorglich
der Kapitän während der Fahrt war. Selbst in Laghura,
einer Stadt, die noch wesentlich größer als die Reichshauptstadt
selbst war, begleitete er sie zum Hafenbüro und sah zu, dass
sie die Passage zu der weit entfernten und selten besuchten Insel
buchte. Nun musste sie lediglich das Geld verdienen, um die Passage
auch bezahlen zu können.
Einzig Naori hatte
Meandra gesagt, was sie vorhatte. Er war mäßig begeistert
und wollte sogar seinen Dienst quittieren, um sie zu begleiten,
aber Meandra wurde daraufhin so wütend, dass er es bleiben
ließ. Sein Wunschtraum war es stets gewesen, in der Garde
zu dienen, und das hatte er erreicht. Sie wollte nicht sehen, dass
er dies ihretwegen aufgab.
"Ich werde
bei Manrar anfangen", hatte sie voller Zuversicht gesagt. "Und
wenn er mich nicht aufnimmt, werde ich es bei allen anderen der
Reihe nach versuchen." Dann überreichte sie ihrem Bruder
eine Abschrift der Schriftrolle, denn er hatte darauf bestanden,
nachvollziehen zu können, wo sie er sie im Notfall finden konnte.
Laghura war schon
immer ein Moloch und eine extrem gefährliche Stadt, da sie
unabhängig vom Reich durch einen Rat mehr schlecht als recht
regiert wurde. Zwar war Meandra neugierig, aber auch vorsichtig.
Geld hatte sie so oder so keins und sie arbeitete in der Herberge,
in der sie wohnte. Während des Winters würde kein Schiff
nach Kasena fahren. Meandra musste die nächsten sieben Monate
in Laghura verbringen.
Bei einem ihrer
abendlichen Streifzüge lief sie in eine kleine Gruppe betrunkener
Halbwüchsiger und es half ihr gar nicht, dass sie durch Umkrempeln
der Taschen nachdrücklich darauf hinwies, dass sie so gut wie
kein Geld besaß. Es dauerte nur einen schnellen Herzschlag
mehr, bis ihr klar wurde, dass es den Trunkenbolden ganz und gar
nicht um Geld ging. Schon begrapschten sie die junge Frau, zerrten
an der Kleidung und sie hatte Mühe, sich zur Wehr zu setzen,
auch wenn sie ihrem Bruder das ein oder andere abgeschaut hatte.
Fünf Gegner waren deutlich zu viel, obwohl drei von ihnen Mühe
hatten, sich auf den vom Alkohol wackligen Beinen zu halten. Eins
war ihr klar: Wenn sie erreichten, was sie wollten, würden
sie ebenso ihr Leben lassen, als wenn sie nicht zum Zuge kommen
würden.
In diesem Augenblick
höchster Not und Verzweiflung trat aus dem Schatten einer Hofeinfahrt
heraus eine völlig in schwarz gekleidete und vermummte Gestalt
und stieß einen der Angreifer rüde zu Boden. Meandra
erkannte eine Stickerei, eine blutrote, sich windende Schlange auf
der schwarzen Kluft, direkt unterhalb des linken Schulterblattes.
Langsam ging die behandschuhte Hand zu einer der Waffen, deren Heft
ebenso schwarz war, wie die Scheide, in der sie steckte. Die fünf
angetrunkenen Burschen wurden aschfahl, winselten, wimmerten Entschuldigungen
und suchten wankend, rennend und auch kriechend das Weite.
"Komm",
vernahm Meandra eine angenehme und junge Stimme, die alles andere
als bedrohlich klang. Sie ergriff die ausgestreckte Hand und erkannte
weichen, sehr teuren Stoff. Der Handschuh, die ganze Kleidung verursachte
nicht ein Geräusch, während sich die noch immer heftig
atmende Meandra ihre Kleidung zurecht machte, so gut es ging. Als
sie das nächste Mal aufsah, fing sich ihr Blick in den dunkelgrünen
Augen ihres Gegenüber. Das jungenhafte, freundliche Gesicht
eines Gleichaltrigen. Für einen Moment stockte ihr der Atem,
dann lächelte sie zurück. Sie wusste genau, dass sie nichts
sagen, sich nicht bedanken musste und er trotz seiner durch die
Art der Kleidung offensichtlichen Tätigkeit ihr ohne jeden
Hintergedanken geholfen hatte. Wenig später stellte sich heraus,
dass er nicht nur ihr erster Liebhaber wurde, sondern auch Angehöriger
der größten ansässigen Diebes- und Meuchlergilde
war. Meandra arbeite jetzt nicht mehr in der Herberge, sondern wohnte
bei Andary. Der junge Mann war sehr fürsorglich und liebevoll
und unterstütze die Idee Meandras, bestand aber auch darauf,
dass sie lernte, sich selbst mit Waffen zu verteidigen, die Schatten
zu nutzen, die Ohren aufzusperren ... und, wenn es denn sein musste,
zu töten.
"Alle Theorie
und die beste Ausbildung werden dir nicht helfen, wenn du auf dich
allein gestellt bist und töten musst", hatte Andary zu
ihr gesagt. So nachdrücklich er das verfolgte und so gelehrsam
Meandra auch war, hatte er mit allem Nachdruck darauf bestanden,
dass sie an keinen Tötungsaufträgen beteiligt war. Und
doch hatte er sie irgendwann mit einem Auftrag in eine extrem gefährliche
Situation geschickt und im Verborgenen gewartet, ob sie sich gegen
die Angreifer würde zur Wehr setzen können. Und wie alles,
was Meandra anfing, perfektionierte sie es in der kurzen Zeit, die
ihr zur Verfügung stand. Nur als sie Andary nach einer Weile
darum anbettelte, auch einmal einen Meuchelauftrag ausführen
zu wollen, verweigerte er die Zustimmung und wurde zum ersten Mal,
seit sie ihn kannte, wirklich böse.
"Wenn du
damit anfängst, wirst du nicht mehr aufhören ...",
hatte er geantwortet. "Oder nicht mehr aufhören wollen
oder können. Du wirst Magierin. Das passt nicht zusammen. Wenn
du damit anfängst, sind wir geschiedene Leute und du fliegst
sofort hier raus!"
Leider konnte
das Schiff nach Kasena nicht auslaufen, da es im letzten Sturm schwer
beschädigt wurde und so musste Meandra warten, bis es überholt
worden war. Nur dieses eine Schiff fuhr die entfernte Insel an,
niemand anderes wollte dorthin fahren, da es nichts gab, was man
auf dieser Reise verdienen konnte. Und Kasena lag nicht einmal nahe
genug an irgendeiner Route, um einen Kapitän überreden
zu können, einen Abstecher zu machen.
Andary sah es
mit Freude, aber auch Besorgnis, denn Meandra fand Gefallen an dem
Leben, das sie mit ihm in Laghura teilte. Da sie aber stets ihrem
Bruder geschrieben hatte - ohne freilich darauf einzugehen, was
sie in Laghura trieb - nutze dieser die Gelegenheit und besuchte
sie während eines kurzen Urlaubs.
Seine Begeisterung
über Andary hielt sich deutlich in Grenzen und die beiden Männer
gifteten sich eine Weile an, bis er erkannte, dass Meandra mit dem
seltsamen Dieb und Meuchler einen guten Treffer in dieser Stadt
gemacht hatte. Sie hätte auch einfach ausgeraubt und ermordet
werden können ... Hoch rechnete er ihm an, dass er sie aus
dem Meuchlergeschäft herausgehalten hatte und sie auf das nächste
Schiff nach Kasena verfrachten würde. Und als er sah, wie gut
seine Schwester inzwischen mit den verschiedensten Waffen umgehen
konnte, war er voller Zuversicht, dass sie im Zweifelsfall ihr Leben
wenigstens teuer verkaufen würde. Mehrfach hatte sie im Training
bereits ihren Bruder besiegt, da sie nicht mit den so genannten
fairen Mitteln kämpfte, aber nach einigen Diskussionen und
Tagen hatte er eingesehen, dass es in Laghura nicht darauf ankam,
ob jemand fair kämpfte. Die Regeln des Reichs galten hier nicht.
"Pass auf
sie auf, oder ...", hatte Naori begonnen, als er kurz vor seiner
Abreise mal wieder mit Andary alleine saufen gewesen war. Doch der
winkte nur ab. Die Bemerkung war so überflüssig wie der
helle Schein einer Kerze am Mittag.
"Oder was?
Ich kann von hier aus womöglich viel besser auf sie aufpassen
als du. Sie ist etwas ganz Besonderes und ich liebe sie." Er
trank einen großen Schluck des für die Region bekannten,
süßen Weines, strich sich durch die zerzausten, eine
Hand breit langen, schwarzen Haare und lehnte sich entspannt zurück.
"Wenn sie ruft, folge ich ihr und die gesamte Gilde wird mir
helfen. Wird die königliche Garde dir folgen, wenn du sie brauchst,
um deine Schwester zu retten oder zu rächen?"
Zwei Wochen später
reiste Meandras Bruder wieder ab und wusste, dass seine Schwester
in Laghura so sicher, wie nicht einmal der Bürgermeister selbst
es war. Und einen weiteren Monat später war die 'Windläufer'
wieder hergestellt und bereit, gen Kasena zu segeln.
"Da bist
du vermutlich die Einzige", hatte Andary lachend gesagt, "die
mit einem Schwert umgehen kann. Nichts wird dir dort passieren,
obwohl ... Wenn ich mit dem nächsten Schiff keine Nachricht
bekomme, werde ich dafür sorgen, dass es eine Invasion gibt!"
Doch beiden fiel es alles andere als leicht, sich zu trennen.
***
Meandra erhob
sich aus dem bequemen Sessel und ging zu der kleinen Bar.
"Andary ...",
flüsterte sie und Tränen traten in ihre Augen, während
sie den tiefroten Wein aus der seltsam geformten Karaffe in ein
mit magischen Symbolen verziertes Glas füllte. Sie wartete
eine Sekunde, bis ein Funkeln auf der Oberfläche des Getränks
lag, nahm den Glaspokal und ging langsam zu einer Couch, die direkt
vor dem offenen Kamin stand. Auf einem kleinen Beistelltisch setzte
sie das Glas ab und machte es sich bequem, um weiter ihren Erinnerungen
nachzuhängen.
***
Die Hafenstadt
Kasenas nannte sich schlicht Kasena. Und hier von Stadt zu sprechen,
erschien Meandra mehr als nur ein bisschen verwegen. Eine Häuseransammlung
beherbergte um die dreihundert Menschen. Fischer, Schäfer,
Bauern ... Und sie empfingen sie mit einer Herzlichkeit, die sie
so nicht kannte. Schon bald sprach sie davon, dass sie den Erzmagier
Manrar aufsuchen wollte, um bei ihm zu lernen. Die Bewohner der
Insel schienen weder Furcht vor Manrar zu haben, noch ihr Anliegen
als seltsam zu betrachten.
Sie versuchte
sich in der Sprache, die hier gesprochen wurde, erzählte den
Einheimischen davon, was in der Welt vor sich ging und half ihnen
bei den Arbeiten, die ihr bekannt waren. Immer wieder zog es sie
hinaus in die wilde Landschaft der Insel. Heiße Quellen, in
denen sie badete und erfrischt wurde. Geysire, die heißes
Wasser aus den Tiefen ausspieen und nach deren Rhythmus man sich
richten konnte. Es war kalt auf Kasena, obwohl Sommer war. Es regnete
immer wieder völlig überraschend und doch ... in dem Moment,
wo man es nicht weiter ertragen konnte, brach die Sonne durch die
Wolken und beleuchtete die hohen und stets weißen Berge der
Insel. Der atemberaubende Wechsel, die völlige Andersartigkeit
im Gegensatz zu Laghura hielt Meandra gefangen. Sie wanderte hierhin
und dorthin, besuchte Katen und kleine Dörfer und wurde stets
willkommen geheißen. Ihren Waffen schenkte man deutlich mehr
Aufmerksamkeit, wies sie darauf hin, dass diese auf Kasena nicht
notwendig waren. Es dauerte, bis sie sie endlich ablegte.
Und es nahm zwei Monate in Anspruch, bis sie sich endlich dem Turm
des Erzmagiers Manrar näherte. Nichts hielt sie ab und sie
hatte auch keine Angst und doch zog es sie immer wieder zu den Bewohnern
der Insel und an die entlegensten Orte.
Es war ein gewaltiger
Turm, der bis hinauf in die dahinjagenden Wolken zu ragen schien;
erschaffen aus der Lava einer Eruption. Außen rau und unbearbeitet,
wirkte er eher wie die Absurdität eines längst vergangenen
Vulkanausbruchs. Davor standen zehn halb zerfallene Hütten,
zwei davon aus Stein gemauert und noch dürftig mit einem Dach
gedeckt.
Meandra würdigte
all dies keines Blickes, sondern ging sofort zum Tor des Turms und
begehrte Einlass. Ein offenkundig uralter Mensch, der sich als Diener
vorstellte, wies sie jedoch ab. Wütend hämmerte sie auf
das Portal ein, bis es sich von der einen auf die andere Sekunde
in massive, erstarrte Lava verwandelte und vom Rest des Turms nicht
mehr zu unterscheiden war. Ungeachtet dessen schlug sie sich die
Hände wund, verlangte weiter, eingelassen zu werden und mit
dem Hochmagister zu sprechen.
Nichts rührte
sich. Das Wetter wurde wieder schlechter und der Fuß des Turms
lag auf einem der Berge. Schnee fiel auf Meandra, die noch immer
am Tor hockte. Als Wind und Schneefall heftiger wurden und es ihr
kaum mehr möglich war, sich auf den Beinen zu halten, bewegte
sie sich vom Tor weg. In einer der massiv gebauten Katen fand sie
ihre Zuflucht, nicht ohne vorher lautstark zu konstatieren, dass
sie hier warten werde, bis sie empfangen oder sterben würde.
Tage und Nächte
vergingen. Das Wetter spulte die üblichen Kapriolen ab. Meandra
hämmerte ans Tor oder an die Stelle, wo es einst war, zog sich
dann aber schnell wieder zurück, wenn das Schneegestöber
dichter wurde oder der Wind wütend und bedrohlich aufheulte
und schneidende Kälte über die Höhen schickte. Bald
würde der Winter Einzug halten und das mochte ihr sicherer
Tod sein.
Keine Reaktion.
Der Turm stand ungerührt.
Meandra zitterte,
fror. Schon lange war ihr das spärlich vorhandene Holz ausgegangen.
Die wenigen Schafe, mit denen sie in den vergangenen Wochen in der
Kate geschlafen und ihre Wärme genossen hatte, waren in tiefere
Regionen gewandert. Bei mehreren Lämmern hatte sie Geburtshilfe
geleistet, riss sich geradezu ein Bein aus, wenn es darum ging,
sich eines der verirrten oder verletzten Schafe anzunehmen und so
war sie Bestandteil der Herde geworden. Doch alles auffordernde
Blöken, die im Winter extrem gefährliche Gegend zu verlassen
und der Herde in die tiefer gelegenen Regionen zu folgen, schlug
sie in den Wind.
Sogar der Winter
zeigte sich gnädig und sandte als letzte Warnung einen kurzen,
aber bedrohlichen Blizzard über die Höhen. Das Schmelzen
von Eis und Schnee und die wenigen jagdbaren Kaninchen und Vögel
reichten kaum aus, Meandra am Leben zu halten, sie fror, zitterte
und war dem Tode nahe. Der Blizzard machte drei Tagen strahlender
Sonne Platz und nur die bitter kalten Nächte erinnerten daran,
dass schon bald der Monate dauernde Winter über Kasena einbrechen
und alles Leben im Freien unmöglich machen würde.
Auch wenn sie
am Ende ihrer Kräfte war, schleppte sie sich immer noch bis
zum Turm, trug ihr Anliegen wieder und wieder vor oder hockte einfach
nur dort.
Eines Morgens,
als sie erwachte und ihre von der alles durchdringenden Kälte
steifen Glieder in Bewegung zu setzen versuchte, fand sie auf dem
Tisch ein kleines Buch, gekennzeichnet mit magischen Symbolen. Mit
zittriger Hand schlug sie es auf und fand Formeln und Beschreibungen
... An der Stelle, wo sich ein aus geflochtenem Sommergras gefertigtes
Lesezeichen befand, verharrte sie eine Weile und las die Seiten
aufmerksam. Für den Moment schien die Kälte verflogen.
Und während
Meandra dort unten dem Tode nahe rätselte, was diese Formeln
wohl bedeuten mochten, stand hoch oben auf dem Balkon des Turms
ein uralter Magier und wartete. Wenig später leuchtete unten
in der Tiefe in einer der Katen ein roter Schein und mit einem Lächeln
auf dem Gesicht verschwand Manrar wieder in seinen Turm.
Es hatte zwei
Tage gedauert, bis sich Meandra erschloss, was dort geschrieben
stand und doch funktionierte die Magie erst, nachdem sie auch den
Rest des Buches gelesen und verinnerlicht hatte. Alles hing zusammen,
alles musste berücksichtig werden. Ihr Leben hing von dem anderer
Wesen ab. Ihre Magie hing davon ab, wie sie sie verstand und nutzte.
Das prasselnde Feuer wurde nicht durch Holz oder Torf genährt,
sondern durch die pure Kraft der Magie, die sie selbst in die passende
Form gebracht hatte. Anderenfalls hätte die schiere Energie
die Insel zerrissen. Das Buch warnte nachdrücklich davor ...
Sie hätte hier alles vernichten können! Und deshalb las
sie es immer und immer wieder, und erst, als sie meinte, es verstanden
zu haben, und die Kälte wirklich nicht mehr ertragen konnte,
riskierte sie einen Versuch. Das Ergebnis war ein prasselndes Feuer
in dem offenen Kamin, genährt durch den beständigen Zufluss
magischer Energie.
Auch wenn es ihr
für den Moment nicht wirklich klar war, sondern sie sich lediglich
über die Wärme und das Licht freute, so hatte sie doch
Magie gewirkt.
Weitere Bücher
und Schriften folgten in unregelmäßigen Abständen
und - ohne es wirklich zu registrieren - lernte sie, was ein Magier
wissen musste. Bis zu dem Tag im folgenden Frühjahr, an dem
sie an einem Abhang stürzte, während sie bemüht war,
eines der verirrten Lämmer zu retten. Sie hatte sich mehrere
Rippen gebrochen und japste nach Luft. Die Schafe, besorgt um eine
der ihren, konnten ihr nicht helfen und liefen verwirrt umher. Der
Schmerz ließ sie in einen tiefen Schlaf fallen, aus dem sie
erwachte, als jemand mit sonorer Stimme ihren Namen rief.
Neben ihr kniete
ein Mann in einer schwarzen und reich verzierten Robe. Zu diesem
Zeitpunkt wusste sie es noch nicht, ahnte jedoch bereits, dass es
Manrar war.
Er nahm die Kapuze
seiner Robe zurück und nur in seinen Augen erkannte sie, dass
er alt jenseits aller bekannten Möglichkeiten war.
"Meine Liebe",
sprach er sanft. "Es ist erforderlich, dass du dich heilst."
Da war keine weitere Regung.
Meandra stöhnte
nur laut.
"Es ist in
den Büchern ...", entgegnete er. "Es ist in dir.
Denk nach, ignoriere den Schmerz, den Tod. Du musst Magie verstehen,
wie sie ist, nicht wie sie beschrieben oder interpretiert wird.
Magie ist nicht alles, es gibt wichtigere Dinge. Aber zuerst ...
heile dich selbst. Alles was du dazu brauchst kennst du bereits."
Manrar erhob sich
und ging davon, ohne erneut zurückzublicken. Und doch war er
sich nicht klar, ob er es der Frau wirklich zumuten konnte. Doch
da war dieses Selbstvertrauen. In all den Jahrzehnten war sie die
einzige, die ihn mit ihrem Anliegen aufgesucht hatte. Und sie blieb
... beharrlich. Gegen alle Konsequenzen. Und niemand wusste es besser
als er: Meandra war für die Magie geboren!
Manrar verschwendete
keinen weiteren Gedanken daran, bis es drei Tage später wieder
heftig an die Pforte seines Turm klopfte. Ein wissendes und glückliches
Lächeln spiegelte sich auf seinem Gesicht und er begab sich
selbst zur Türe, die von außen gar nicht als solche erkennbar
war. Er ließ Meandra schweigend hinein und staunte insgeheim,
dass sie sich so aufrecht halten konnte. Sie war ausgemergelt und
dem Tode näher als dem Leben. Sie hatte es bewerkstelligt,
ihre Wunden zu heilen, dem erbarmungslosen Wetter zu trotzen.
Ohne ein Wort
drehte er sich um und schritt vor ihr her bis zu dem Raum, den er
als Studierzimmer nutzte. Er bot ihr einen leicht verschlissenen,
aber sehr bequem anmutenden Sessel an, der sie sogleich mit angenehmer
Wärme und Bequemlichkeit umfing, als sie sich darauf niederließ.
"Ich heiße
euch willkommen, Magister Meandra", sagte der alte Erzmagier
mit tiefer Stimme und ein Schmunzeln strich über sein Gesicht.
"Magister?",
ächzte die junge Frau und sah sich dabei in dem opulent ausgestatteten
Raum um.
"Natürlich",
erwiderte Manrar. "Dass ihr hier sitzt und lebt ist der beste
Beweis dafür, dass ihr eure Prüfung bestanden habt."
"Ach!"
Sie winkte ab. "Es war in den Büchern."
Manrar stand langsam
auf, ganz so als machte ihm das Alter zu schaffen, und ging zu einem
weiteren kleinen Tisch, auf dem ein Stapel Bücher lag.
"Wenn du
dich erholt hast, Meandra", sagte er mit leiser aber bestimmter
Stimme, "dann wirst du mir beweisen müssen, welcher Heilzauber
in diesen Büchern steht."
Meandra schlief
ein und ruhte tief und traumlos.
***
Die Erzmagierin fuhr auf und sah sich für einen Augenblick
irritiert um. Der Raum war ihr bekannt, aber es fehlte an etwas
... an jemandem. Und dann überkam sie wieder die Erkenntnis,
dass diese Person, ihr Mentor, nie wieder zugegen sein würde.
Sie nahm einen
kleinen Schluck von dem roten Wein und blickte das Portrait Manrars
voller Sehnsucht an.
***
"Also?", fragte sie Manrar, ganz so als sei nicht mal
eine Sekunde vergangen, obwohl es drei Tage und Nächte waren.
"Was steht in den Büchern?"
"Magie ...",
erwiderte sie, noch immer durch Müdigkeit geprägt. "Magie,
die mich am Leben erhielt. Ich danke euch."
"Falsch,
meine Liebe!"
"Was?"
"Im ersten
Buch standen Grundlagen der Magie, wie ein Feuer zu entfachen ist.
Die anderen Bücher befassen sich mit anderen Dingen. Grundlagen
der Landwirtschaft, ein Kriminalroman ... anderes eben." Manrar
lachte laut. "Du hast daraus gemacht, was du am meisten brauchtest.
Das ist Magie! Und ganz und gar nicht stand darin, wie man Wunden
und schwere Verletzungen behandelt. Die Magie war schon da, bevor
ich dir das erste Buch gab. Lange vorher!"
"Ich ..."
"Nein!",
konstatierte Manrar und hob abwehrend eine Hand. "Kein Wort
mehr. Wir werden voneinander lernen und einander lehren. Ich habe
nicht mehr viel Zeit, denn auch für einen Magier, der es versteht,
die Zeit zu manipulieren, ist das Leben dennoch begrenzt. Du wirst
lernen, dass dies gut ist und Sinn hat."
"Die anderen
..."
"Ja?"
"Werden die
andern akzeptieren, dass eine Frau Magie beherrscht?"
"Werden sie
die Frau überleben, die Magie beherrscht, wenn sie sie nicht
akzeptieren?"
"Du meinst
..."
"Macht ergiebt
sich aus der Möglichkeit sie auszuüben und es zu lassen.
Wahre Macht ist die Freiheit der Entscheidung."
***
"Macht ..." Meandra holte tief Luft. Ein halbes Jahrhundert
war vergangen, als sie Manrar zum ersten Mal begegnet war und doch
war es ihr, als sei dies gestern geschehen. "Was nutzt mir
Macht, wenn die, die ich liebe doch vergehen, bevor ich sie wirklich
verstehe?"
Die Erzmagierin
stand langsam auf und wanderte, mit dem Weinpokal in der Hand über
den tiefflorigen Teppich und blieb vor einem Globus stehen, der
die bekannte Welt darstellte.
Meandra holte
tief Luft und stierte das Modell an.
"Ich könnte
sie aus den Angeln heben ... alles beenden. Ich habe alles verstanden,
was es zu verstehen gibt, Manrar."
"Dann trägst
du nun die Verantwortung dafür", antwortete eine sanfte
Stimme aus dem Hintergrund.
"Miko!"
Meandra wirbelte herum und eilte auf ihren Sohn zu, der seinem Vater
Andary so ähnlich sah, dass sie mitunter nicht wusste, ob es
sie schmerzen oder freuen sollte. Das Glas mit dem kostbaren Wein
warf sie in die Luft und schnippte beiläufig mit den Fingern
und es verschwand, bevor es den Teppich erreichte. Sie umarmte ihren
Sohn herzlich und er tat es ihr gleich. Beide schätzten die
Nähe, die sie Monate zuletzt genossen hatten, ausgiebig.
"Mutter",
murmelte Miko, sprach dann aber deutlicher. "Der König
hat eingelenkt, er wird keinen Krieg gegen Laghura führen.
Was blieb ihm auch anderes übrig ..."
"Er hätte
seine Magier schicken können ..." Meandra wirkte nachdenklich.
"Und was",
lachte er, "hätten sie gegen dich ausrichten können?"
Sie blinzelte,
Tränen in den Augen.
"Ja ...",
antwortet sie. "Aber ich bin nicht auf ewig hier ..."
(c) 26. Dezember
2006
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